Autor: Bischof Dr. Georg Bätzing, Limburg.
Die nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) sind
der zentrale Maßstab für staatliche und nicht-staatliche
Entwicklungszusammenarbeit. Dass die Bekämpfung der Armut an erster Stelle
steht, ist kein Zufall. Sie ist die Voraussetzung für eine gerechte und nachhaltige
Zukunft. Die Bekämpfung der Armut in allen ihren Formen und damit die
Sicherung einer menschenwürdigen Existenzgrundlage bildet die unabdingbare
Voraussetzung für die Agenda 2030 und ist zugleich von deren Erreichung
abhängig.
Die COVID-19-Pandemie hat viele der zwischenzeitlich erreichten Fortschritte in
der weltweiten Armutsbekämpfung zunichte gemacht. So ist infolge der
Pandemie die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen erstmals wieder
angestiegen. Hinzu kommen die fatalen Auswirkungen der Klimakrise, die
vulnerable Bevölkerungsgruppen ungleich stärker betreffen. In einer Zeit, in der
Isolationismus und nationale Egoismen eine Hochkonjunktur erleben, gerät die
staatliche wie auch nicht-staatliche Entwicklungszusammenarbeit unter einen
besonderen Begründungsdruck.
Während meines Besuchs in Bafoussam in Kamerun im Mai 2024 wurde mir
deutlich: Ohne gemeinsame Anstrengungen lässt sich Armut nicht wirksam
bekämpfen. Im Limburger Partnerbistum Kumbo im Nordwesten Kameruns
herrschen seit Jahren kriegerische Auseinandersetzungen. Unsere Partnerinnen
und Partner vor Ort konnten uns eindrucksvoll berichten, wie das Zusammenspiel
aus sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Krise die Lebensgrundlagen der
lokalen Bevölkerung bedroht.
Kirchliche Entwicklungszusammenarbeit ist kein „Nice-to-have“
Am Beispiel Kameruns ist mir aufs Neue bewusst geworden, dass die kirchliche
Entwicklungszusammenarbeit kein „Nice-to-have“ ist, sondern einer doppelten
Verantwortung entspringt. Einerseits ist hier die historische Verantwortung zu
benennen. Ob im Fortbestehen willkürlich gezogener und insofern
konfliktbehafteter Grenzen, in ungerechten politischen Institutionen oder in
verstärkten wirtschaftlichen Abhängigkeiten – die Folgen der kolonialen
Ausbeutung sind bis heute spürbar. Der Befund, dass der Globale Norden in
erheblichem Maße zur Entstehung der Armut im Globalen Süden beigetragen hat,
ist unausweichlich. Andererseits besteht neben dieser historischen
Verantwortung im Hinblick auf die Klimakrise auch eine gegenwärtige und
künftige Verantwortung für die Bekämpfung der weltweiten Armut. Der Reichtum
der westlichen Industrienationen basiert bis heute in erheblichem Maße auf der
Ausbeutung unseres Planeten und insbesondere der Länder des Globalen Südens.
Papst Franziskus wird nicht müde, die Verflechtungen von sozialer,
wirtschaftlicher und ökologischer Krise zu benennen. In seiner Enzyklika Laudato
Si‘, die vor zehn Jahren veröffentlicht wurde, benennt er die multiple Krise
eindrücklich: „Wir kommen [...] heute nicht umhin, anzuerkennen, dass ein
wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der
die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der
Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde.“
Damit ist zugleich benannt, dass die Bekämpfung der Armut weit über finanzielle
Transfers hinausgehen muss. Es geht insbesondere in der kirchlichen
Entwicklungszusammenarbeit um einen Erfahrungsaustausch, um die Bildung
einer Lerngemeinschaft angesichts gemeinsamer Herausforderungen. Ohne über
die in finanzieller Hinsicht zweifelsohne bestehenden Machtasymmetrien
hinwegzusehen, können so in gemeinsamer, aber unterschiedlicher
Verantwortung Akzente für gerechtere Gesellschaften gesetzt werden.
Christlicher Grundauftrag
In dieser Hinsicht gilt es, das transformative Potenzial der Religionen zu heben.
Alle Religionen betonen die Bedeutung, sich den Armen und Ausgegrenzten
zuzuwenden. So ist es auch für Christinnen und Christen weltweit ein
Grundauftrag, sich gegen Armut und für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. In
Deutschland kommt hierbei den kirchlichen Hilfswerken eine Schlüsselrolle zu.
Die Formulierung des SDG 1 „Bekämpfung der Armut in allen ihren Formen“
deutet an, dass Armut ein mehrdimensionales Problem ist. Die Pandemie hat uns
vor Augen geführt, dass die Folgen der Armut nicht selten Isolation, Ausgrenzung
und Einsamkeit sind. So sehr es nach einer Binsenweisheit klingen mag, so
zutreffend ist der Befund: Armut macht krank.
Kinder und ältere Menschen sind besonders betroffen
Gerade in einer Zeit, in der der Reichtum und auch der politische Einfluss der
Reichen exponentiell ansteigen, gilt es, der Perspektive der Marginalisierten
Sichtbarkeit zu verschaffen, ohne in die Falle der Bevormundung zu tappen. Der
Blick auf unsere eigene Gesellschaft zeigt, dass auch in Deutschland der Kampf
gegen die Armut nicht gewonnen ist. Die Armutsgefährdungsquote liegt noch
immer bei über 14 Prozent, und insbesondere Kinder und ältere Menschen sind
von Armut und deren sozialen Folgen massiv betroffen.
Trotz oder gerade wegen aller bereits erreichten Fortschritte gilt es, sich noch
entschiedener und gemeinschaftlich für die Bekämpfung der Armut in allen ihren
Formen in Deutschland und weltweit einzusetzen. Dazu wollen die Kirchen
weiterhin ihren Beitrag leisten.