Examensarbeit, Institut für Förderpädagogik und Inklusive Bildung, 118 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Thematisiert der einflussreiche Soziologe Pierre Bourdieu die schulische Chancenungleichheit in Verbindung mit Kultur, so unterscheidet er drei Kapitalformen: Das ökonomische Kapital, welches das Schulleben etwa durch die finanziellen Möglichkeiten erleichtert, das soziale Kapital, welches den SchülerInnen durch die nötigen Beziehungen beispielsweise Verbindungen zu begehrten Praktikumsplätzen einrichtet und das kulturelle Kapital, welches nach Bourdieu den größten Einfluss auf den Schulerfolg beinhaltet. Ein großer Teil dieses kulturellen Kapitals werde durch Sprache bestimmt (Bourdieu, 2001, S. 25-31).
Die Erkenntnis über die Bedeutung der Sprache für den Bildungs- und Lebenserfolg ist auch von der Bundesregierung Deutschlands aufgegriffen worden. Im Nationalen Integrationsplan von 2007 wird dafür plädiert, die Sprache der Kinder von Beginn an verstärkt zu fördern. So werden beispielsweise mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren angestrebt und sowohl die Entwicklung von Konzepten zur allgemeinen Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen als auch die Forschung hinsichtlich der Sprachstandserhebung der Kinder soll gefördert werden (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 2007, S. 15-16). Dieses Vorhaben der Bundesregierung und insbesondere der Fokus auf die Arbeit mit Kindern unter drei Jahren erscheint mit dem Ziel, einer Förderkarriere vorzubeugen und eine Bildungskarriere anzustreben, absolut sinnvoll und lässt sich sprachwissenschaftlich hinreichend begründen. So hält Kauschke (2015, S. 3) prägnant fest: „Auch wenn sich die Sprachfähigkeiten in den Folgejahren weiter verfeinern und erweitern werden, so sind die ersten 3 Lebensjahre sicherlich als die wesentlichen Phasen des Erwerbs sprachsystematischer und pragmatischer Fähigkeiten zu werten.“.
Mit dem erweiterten Marburger Sprachscreening mit dem Wortschatzschwerpunkt (folgend MSS-E-W) haben Holler-Zittlau, Dux & Berger (2017) ein Sprachprüfverfahren vorgelegt, mit dem der Sprachstand von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen mit wenig Erfahrung in der deutschen Sprache erhoben werden kann. Ausgehend von der Bedeutsamkeit der ersten drei Lebensjahre für die Sprachentwicklung, der Relevanz der Sprache für die Bildungsbiographie und von der damit verbundenen Notwendigkeit von aussagekräftigen Spracherhebungsverfahren für diese Altersgruppe, wird in der vorliegenden Arbeit das MSSE-W mit monolingual deutschsprachigen und mehrsprachigen Kindern im Alter von 2;0 bis 2;11 Jahren evaluiert. Das Verfahren scheint wegen der Überprüfung des alltagsrelevanten Basiswortschatzes auch zur Sprachstandserhebung eben jener Zielgruppe geeignet. Inwiefern diese Hypothese zutrifft, ist Gegenstand der empirischen Arbeit. Hinsichtlich der aktuellen Diagnostikverfahren auf semantisch-lexikalischer Ebene kritisiert Glück (2009, S. 182) eine mangelnde Ausrichtung an auf die Sprachentwicklung bezogenen und linguistischen Faktoren. Basierend auf diesen Punkten erfolgt die Evaluation des MSS-E-W vor allem aus entwicklungslogischer sowie linguistischer und weniger aus testtheoretischer Perspektive. Demzufolge beginnt der theoretische Teil der Arbeit mit einer detaillierten Beschreibung des Sprachentwicklungsverlaufs von Kindern. Das anschließende Kapitel setzt sich mit den Grundlagen der Diagnostik auseinander und geht in diesem Zusammenhang auf die allgemein geltende Testtheorie sowie auf die Sprachdiagnostik ein. Im letzten Kapitel des theoretischen Teils wird begründet, weshalb vor allem die frühe Sprachstandserhebung von Bedeutung ist. Im Rahmen der empirischen Studie wird der Wortschatz von sechs zweijährigen Kindern anhand von drei Verfahren, darunter das MSS-E-W, erhoben, um das MSS-E-W sowohl in der Betrachtung der Durchführung als auch im Vergleich zu zwei anderen Verfahren zu evaluieren. Im fünften Kapitel werden methodisches Vorgehen und die ausgewählten Spracherhebungsverfahren der empirischen Untersuchung vorgestellt. Die Durchführung, Analyse und Diskussion der vergleichenden Studie werden in den folgenden Kapiteln umfassend und differenziert präsentiert. Das neunte Kapitel führt die von der Theorie abgeleiteten und die in der Praxis gewonnenen Erkenntnisse im Hinblick auf die Frage nach der Tauglichkeit des MSS-E-W zusammen. Es zeigt sich, dass es sich bei dem MSS-E-W in vielerlei Hinsicht um ein geeignetes Verfahren auch für Kinder im Alter von 2;0 bis 2;11 Jahren handelt, da ein Großteil der im MSS-E-W abgefragten Nomen, Verben und Adjektive dem frühen Wortschatz entsprechen. Zugleich verwendet das MSS-E-W Aufgabenformate, die auch von Zweijährigen bewältigt werden können, da die Sprechanlässe über das Benennen oder auch das informative Zeigen initiiert werden. Darüber hinaus werden Bereiche des MSS-E-W aufgezeigt, die zur Sprachüberprüfung von zweijährigen Kinder weniger geeignet sind und einer Überarbeitung bedürfen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der vorliegenden Arbeit nicht nur das Desideratum der fehlenden Spracherhebungsverfahren für das mit Blick auf den Bildungsverlauf äußerst relevante dritte Lebensjahr thematisiert wird, sondern mit der
Evaluation des MSS-E-W für die Altersgruppe der Zweijährigen eine empirisch fundierte Lösungsmöglichkeit vorgelegt wird.