Legitimierung und Delegitimierung von Kritik. Eine empirische Untersuchung eines Konflikts um den Neubau einer Flüchtlingsanschlussunterbringung

Autor: Dieterich, Manuel
Jahr: 2017

Masterarbeit, Institut für Soziologie, 82 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

Die vorliegende Masterabschlussarbeit beschäftigt sich mit einem lokalen Konflikt zwischen Anwohnenden, städtischer Wohnungsbaugesellschaft und Stadtverwaltung um den geplanten Neubau einer Anschlussunterbringung für Geflüchtete in Tübingen. Der analytische Fokus liegt auf der Frage, wie in der öffentlich ausgetragenen Debatte Argumente legitimiert und delegitimiert werden. Es geht also um die sozialen Verfahrensregeln von öffentlichen Kontroversen und damit um ein Grundproblem aller politisch verfasster Gemeinwesen. Die aktuellen Debatten über Fluchtmigration weisen eine starke Tendenz zu Dichotomisierungen auf, womit diskursive Grauzonen zunehmend verdrängt werden. Der untersuchte Fall von Anwohnendenprotest lässt sich genau in diesen Graubereich der „FlüchtlingsskeptikerInnen“ einordnen. Dieses Forschungsfeld ist mindestens im deutschsprachigen Raum bisher massiv untererforscht, ganz im Gegensatz zum Feld der zivilgesellschaftlichen Organisationen der Geflüchtetenhilfe. Um die aktuellen politischen Konflikte rund um die Themen Migration und Flucht soziologisch verstehen und erklären zu können, bedarf es aber der Untersuchung beider Phänomenbereiche.

Die Untersuchung des Konflikts basiert auf einem reichhaltigen Korpus qualitativer Daten, der aus 8 Interviews (6 Einzel- sowie 2 Doppelinterviews), Leserbriefen, Zeitungsartikeln, Youtube-Videos, Webseiten sowie Diskussionen in den neuen sozialen Medien besteht. Dabei wurde das Material so ausgewählt, dass alle relevanten Konfliktparteien und ihre Meinungen umfassend vertreten sind.

Der untersuchte Konflikt entzündete sich an der Frage nach adäquater Wohnraumversorgung von Flüchtlingen. So herrscht aufseiten der Stadtverwaltung und städtischer Wohnungsbaugesellschaft die Meinung vor, dass der geplante Neubau das Kriterium der Dezentralität erfülle und somit nachhaltig zur Integration beitrage. Aufgrund der gebotenen Eile seien zwar Kommunikationsfehler begangen worden, die Anwohnenden aber trotzdem über das vorgeschriebene Maß hinaus in partizipativen Verfahren mit eingebunden gewesen. Die Anwohnenden hingegen fühlen sich von der städtischen Verwaltung und Wohnungsbaugesellschaft hinters Licht geführt, da der Bau, entgegen der Beteuerungen, nicht dezentral sei und somit langfristig zu Desintegration und Ghettoisierung führe. Die Anwohnenden haben sich daher zu einer lokalen Interessensgemeinschaft zusammengeschlossen, die durch verschiedene Aktivitäten das Planungsverfahren beeinflussen möchte und sich deshalb mit dem Vorwurf der Flüchtlingsfeindlichkeit konfrontiert sieht. In der diskursiven Auseinandersetzung konnten verschiedene Rechtfertigungsordnungen identifiziert werden, welche als Basis für Kritik sowie Rechtfertigungen dienen. So ist es unerlässlich Bezug auf einen sozial geteilten Rechtfertigungstopos zu nehmen, um ein gültiges Argument zu machen. Dabei stehen in thematisch begrenzten Diskursfeldern wie der Zuwanderungspolitik eine begrenzte Zahl an Topoi zur Verfügung, die auch nicht weiter begründet werden müssen. Als sozial geteilte Ordnungen erlauben sie es Partikularmeinungen und –interessen in das Gewand des Allgemeinen kleiden zu können, ohne dass sie selbst weiterer Begründung bedürfen. Die beiden Konfliktparteien beziehen sich zu einem empirisch erstaunlichen Maße auf geteilte Rechtfertigungstopoi (Demokratie, Integration, Fairness als Verfahrensform und Anwaltschaft für die Sprachlosen), wobei sie diese aber bezogen auf ihre eigenen Interessen und ihre Positionalität in der Konfliktkonstellation unterschiedlich auslegen. Die zwei anderen empirischen Rechtfertigungstopoi (Ästhetik und Flüchtlingskritik als Tabu)finden sich nur in der Argumentation nur einseitig wieder.

Die Verwendung derselben zentralen Rechtfertigungstopoi durch die unterschiedlichen Konfliktparteien, lässt sich als wechselseitige Spiegelung auffassen. Der Dissens bezieht sich nun nicht auf die Gültigkeit der Begründungsfiguren an sich, sondern auf ihre richtige bzw. falsche Anwendung. Die empirische Kongruenz der Rechtfertigungstopoi untermauert die zentrale theoretische These der Arbeit, dass tatsächlich basale themenspezifische Rechtfertigungsordnungen existieren, auf die sich Positionen in der Flüchtlingsfrage beziehen müssen, um als legitim anerkannt zu werden. Sie bilden dann den Hintergrund, vor dem darüber gestritten werden kann, wie die abstrakten Politikziele umgesetzt werden können. Dies empirisch zeigen zu können ist das zentrale Ergebnis der Studie. Ob die Spiegelung der Topoi darauf zurückzuführen ist, dass die Akteure einander wechselseitig beobachten und ihre Argumentation aneinander anpassen oder ob es daran liegt, dass eine Rechtfertigungsordnung per se nur eine sehr begrenzte Zahl von Topoi bereithält, auf die die Akteure zwangsläufig stoßen müssen, lässt sich empirisch anhand des Falls nicht klären.

Für das Verständnis öffentlicher Debatten um die Flüchtlingsunterbringung besonderes erhellend ist der einseitig verwendete Rechtfertigungstopos der Tabuisierung von Flüchtlingskritik bzw. die Frage nach der Verschiebung von Kritik. Dabei geht es darum, unter welchen Bedingungen Sprechenden unterstellt werden kann, dass sie andere Beweggründe hätten als jene, die sie vorgeben, da bestimmte Rechtfertigungen (wie Rassismus) tabuisiert sind und daher die Kritik auf andere Topoi verschoben werden muss, um als legitim zu gelten. Die These ist dabei, dass aufgrund der Begrenztheit der legitimen themenbezogenen Rechtfertigungstopoi zwischen persönlichen Motivationen und Begründungen lediglich eine lose Kopplung besteht. Dies kann jedoch wiederum zum Ausgangspunkt für Kritik genommen werden, etwa wenn der gegnerischen Seite Unaufrichtigkeit oder Instrumentalisierung von Argumenten zum Vorwurf gemacht wird. Aus Sicht der vorliegenden Arbeit handelt es sich dabei jedoch um eine soziologische Strukturbedingung öffentlicher Debatten.

Die Arbeit an der Schnittstelle von Soziologie der Kritik und soziologischer Mobilisierungsforschung vermittelt Innenansichten einer sozialen Bewegung der „FlüchlingsskeptikerInnen“, die sozialwissenschaftlich bisher hauptsächlich aus der Außenperspektive wahrgenommen wurde. Durch die umfassende Fallrekonstruktiongelingt es den Fall in seiner alltagsweltlichen Struktur und seiner Multiperspektivität erkennbar und nachvollziehbar zu machen, ohne eine der Konfliktparteien zu diskreditieren. In diesem Sinne leistet die Arbeit auch einen soziologischen Beitrag zur Supervision eines lokalen Konflikts.