Masterarbeit, Fachbereich Politikwissenschaft, 96 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
„Weil ohne diese Karte wir sind nichtig. Weil wir haben kein Namen, wir haben nur eine Nummer. Weil wir alle Personen in die Camp haben kein Name, nur die Nummer. Ist wie Gefängnis, wissen Sie.“ (Interview III: 236-238)
Im Frühjahr 2015 begann ich als studentische Hilfskraft im Unterkunftsmanagement einer Hamburger Erstaufnahme (EA) zu arbeiten, zu der Zeit als Berichte über s.g. „Flüchtlingswellen“, welche über die Balkan-Route nach Deutschland kamen, die Medien über Monate dominierten. Die EAs bildeten eine deutschlandweite Maßnahme der Bundesregierung, um für eine effektive Registrierung der Asylsuchenden zu sorgen sowie Unterkunft und grundlegende soziale Dienstleistungen während des Asylprozesses zur Verfügung zu stellen.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Konzeptionalisierung der Grenze und ihrer Bedeutung für die staatliche Souveränität in Zeiten der Globalisierung. Dabei nimmt die Arbeit Abstand von dem theoretischen Verständnis der Grenze als geografische Linie und rückt die Praktiken der Grenzziehung, ausgeführt durch unterschiedliche Akteure und hier bezeichnet als Praktiken der borderisation, in den Fokus der Forschung. Diese Praktken der Re-Territorialisierung von Staatlichkeit führen zu einer spezifischen Strukturbildung, der ein bestimmtes Normverständnis von Staatlichkeit zugrunde liegt. Demzufolge wird Staatlichkeit hier selbst als ein „Grenzbegriff“ verstanden, welche nur durch die kontinuierliche Rekonstruktion staatlicher Grenzen – das was außerhalb und das was innerhalb seiner Norm liegt - normative Bedeutungsmacht erlangt. Diese Arbeit geht davon aus, dass die EA einen Ort dieser Strukturbildung repräsentiert, in dem Praktiken der borderisation beobachtet werden können, welche sie zu einer alternativen Grenzzone mit alternativen Subjekten konstruiert.
Während die meisten Arbeiten an diesem Punkt aufhören wurden, indem sie zeigen, dass Grenzen deterritorialisiert werden (EAs befnden sich innerhalb des nationalen Territoriums) und sie durch alternative Akteure gemanagt werden (Camp-Management, private Sicherheitsfrmen etc.), argumentiert diese Arbeit, dass die entscheidenden Auswirkungen für eine konstruktivistische Erkenntnistheorie in der Fragestellung liegt, wie Akteure die Grenzzone durch ihre täglichen Handlungen konstruieren. Welche Akteure beteiligen sich an diesem Prozess und mit welchem zugrundeliegenden praktischen Normverständnis handeln sie? Es stellt sich also die Frage: Wie findet die Praxis der Neuziehung nationaler Grenzen innerhalb der spezifschen organisatorischen Struktur der EA statt und wie transformiert diese Praktik der borderisation das normative Konzept nationaler Grenzen und damit ihr zugrundeliegendes Normverständnis von Staatlichkeit? Ziel der Arbeit ist es, die Analyse von Praktiken der borderisation als heuristischen Ansatzpunkt zu nutzen, um erste Hypothesen über den Charakter der Grenzzone und ihren Subjekten zu entwickeln und wie diese das Konzept der Politischen Theorie der Souveränitat, bestehend aus der Trias Staat, Territorium und Volk, verändert. Denn es sind die alltäglichen Praxen, durch die die Grenzen der Zukunft und ihre interne Logik kontinuierlich konstruiert und durch die die Beziehungen zwischen dem Globalen und dem Lokalen auf multiple Weise verhandelt werden. Es ist hier an den Rändern staatlicher Souveränitat und Rechtsprechung, wo die Norm und ihre Ausnahme verhandelt werden und der Staat um sein Monopol auf die Durchsetzung seiner Grenzen kämpft. Anstatt eine staatliche Allmacht aufgrund seines Monopols der Gesetzgebung bloß anzunehmen, konzentriert sich die Arbeit auf die multiplen Kämpfe, ausgeführt in den Praktiken der bordersiation, welche versuchen die normative Bedeutung von Staatlichkeit im Rahmen von Grenzzonen zu re-territorialisieren.
Durch qualitative Interviews mit Bewohnern aus Hamburger EAs wurden zum einen grundlegende architektonische Merkmale der EA rekonstruiert, die erste Rückschlüsse auf die Art und Weise zulassen, wie die Grenzzone Subjekte konstruiert. Zum anderen wurden zentrale Praktiken bestimmter Akteursgruppen (z.B. Sicherheitsbeamte*innen, Sozialmitarbeiter*innen, Unterkunftsmanagement, Bewohner*innen) rekonstruiert. Insbesondere wurden alltägliche Kontrollpraktiken analysiert, die v.a. anhand spezifischer Praktiken im Umgang mit dem Artefakt der ID-Karte fur Bewohner*innen rekonstruiert wurden.
Die Re-Konstrukiton dieser Praktiken ergab, dass das Potential dieser produktiven Leistung in einer Verschiebung von vormals territorialen hin zu subjektvierenden Souveränitätspraktiken staatlicher Grenzen liegt. Es ist Aufgabe der Praktiken der Grenzzone, die anonyme Masse der Flüchtlinge in einzelne Körper zu zerlegen, sie zu identfzieren, um sie anschließend in neue Subjektvitätskategorien einzuordnen. Es zeigte sich, dass der Flüchtling selbst in diesem Prozess nicht als passive Figur aufritt, sondern es die Aufgabe des Flüchtlings ist, sich selbst zum rechtmäßigen Subjekt zu machen, indem er seine Wiedereingliederung in eine Bürgerschaft aktiv vorbereitet. Es lässt sich durch die Konstruktion dieser produktiven Grenzzonen die Hypothese aufstellen, dass Staatlichkeit bzw. Souveränität durch die Macht der Subjektivierung hergestellt und ausgeweitet wird. Das Streben in Richtung des Subjektes des Bürgers kann als erfolgreiche Normalisierung staatlicher Souveränität angesehen werden. Ausnahme und Integration stellen jedoch fur den Staat keine Widersprüchlichkeiten dar, sondern sie sind der Versuch, durch die Produktion eines differenzierten kategorialen Ordnungssystems die souveräne Herrschaftsordnung wieder herzustellen. Die Praktiken der Grenzzone sorgen somit dafür, dass das Lokale, die Naton, der Bürger auf neue Weise mit dem Grenzsubjekt, dem Globalen, der Ausnahme verbunden werden.