Masterarbeit, Fachbereich Landschaftsarchitektur/Freiraumplanung, 169 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Kaum ein anderes Thema ist in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts europa-, wenn nicht gar weltweit, so häufig besprochen worden wie das der Migration. Geflüchtete, die an den Zäunen Nordafrikas auf eine ungewisse Chance warten, prägten die Medienlandschaft ebenso wie die schockierenden Nachrichten über Bootsunglücke von afrikanischen und arabischen Migranten im Mittelmeer. Statt um Lösungen geht es in den öffentlichen Diskussionen vorrangig darum, wie der sogenannte »Migrationsstrom« in Richtung Europa aufgehalten werden kann, nicht aber um Ursachen und Einzelschicksale. Will man jedoch die Menschen sehen und ihr lebensgefährliches Unterfangen verstehen, so muss man einen Schritt zurück treten – hinter die Küstenlinien Nordafrikas. Deswegen liegt der Fokus dieser Arbeit weiter südlich und richtet den Blick auf die Migration auf dem afrikanischen Kontinent selbst, genauer im saharischen Raum. Denn neben den Menschen, die auf der Mittelmeerpassage ihr Leben lassen, steht die weitaus größere Anzahl derer, die den beschwerlichen Weg durch die Sahara zwar antreten, von denen aber nur ein geringer Teil an der nordafrikanischen Küste ankommt. Dieser Abschnitt des Migrationsprozesses gewinnt zunehmend an Bedeutung, die Zahl der Reisenden nimmt beständig zu. Das Phänomen des »Strandens in der Wüste« ist mindestens ebenso beachtenswert wie das an den Ufern des Mittelmeers. Das Forschungsziel der Arbeit ist dementsprechend die Identifizierung, Analyse und Verräumlichung der unterschiedlichen transsaharischen Migrationsrouten.
Mit der räumlichen Verschiebung vom Mittelmeer zur Sahara verändert sich auch der Blick auf Migration in diesem Raum. Zunächst ergibt sich eine detailliertere Klassifizierung der Migrationswege, die der west-, zentral- und ostsaharischen Route Rechnung trägt. Diese Routen sind jedoch nicht in Stein gemeißelt, sondern in Sand geschrieben – sie sind temporär, können sich fortlaufend verändern, auftauchen und wieder verschwinden und stehen in einem engen Wechselverhältnis zu den Transitorten. Denn während in Analysen der Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum implizit oder explizit von einer klaren Richtung der Migration (nämlich Richtung Europa) ausgegangen wird, zeigt »Stranded People – Connecting the Dots«, dass diese eindimensionale Perspektive die Realität der Migranten in und um die Sahara unzureichend beschreibt. Denn hier entsteht ein »Leben im Transit«. Dies ist zum Teil durch die verstärkten Grenzkontrollen in Nordafrika und die Externalisierung der europäischen Außengrenzen bedingt. Die Migranten geraten in einen »Loop«, also ein wieder und wieder zirkuläres Reisen zwischen den Stationen mit oft beträchtlichen Aufenthaltsdauern. Durch diese so verlängerten Migrationsprozesse der Transitmigranten wird die Urbanisierung Afrikas weiter befördert.
Bei der Untersuchung der transsaharischen Migrationsrouten lege ich besonderen Fokus auf die Stationen, die »migration-hubs«, die die höchst veränderlichen und ephemeren Zwischenetappen verbinden. Migration-Hubs sind als Sammlungs-, Verteilungs- und Versorgungspunkte, zwischen denen sich die Abschnitte der transsahrischen Routen aufspannen, von zentraler Bedeutung für das Migrationssystem. Ohne die Existenz dieser ständig im Wandel befindlichen, dynamischen Orte wäre die fragmentierte Migrationsreise über Tausende von Kilometern unmöglich. Als »dots« sind diese Orte über den gesamten saharischen Raum verteilt und bilden den Rahmen für die Konfiguration der Migrationsrouten. Eine Typologie dieser für jeden Migranten essenziellen Orte fehlte bislang. Zum Zwecke dieser und zur Vergleichbarkeit der Orte habe ich in Form von Steckbriefen charakteristische Faktoren wie Frequentierung, Unterkunftsart, Gefahren und Transportmittel sowie die landschaftsräumliche Einbettung visualisiert. Damit ist eine Blaupause entstanden, die auch in der fortlaufenden Entwicklung der Routen Orientierung schafft und für nachfolgende Studien als Grundlage dienen kann. Die Entwicklung neuer Routen und Migration-Hubs kann als eine Reaktion auf die verschärfte Polizeipräsenz an bisherigen Hubs verstanden werden. Migration-Hubs wachsen so entlang der Routen und entwickeln sich dadurch zu regionalen Verwaltungszentren und kosmopolitischen Hotspots gleichermaßen, aber auch zu Zentren des prekären Lebens. Auch aus diesem Grund ist es von Wichtigkeit, sich mit Migration-Hubs zu beschäftigen, will man zeitgenössische Urbanisierungstrends in der untersuchten Region weiter verfolgen. Ein nicht zu vernachlässigendes Phänomen sind jene Hubs, die erst durch Deportationen aufgegriffener Migranten an die südlichen Außengrenzen der jeweiligen Staaten – Marokko, Algerien, Libyen – entstehen. Neue, selbstverwaltete Migration-Hubs entwickeln sich, doch es sind segregierte Orte allein für und durch die Migranten. Diese zumeist im landschaftlichen und rechtlichen Niemandsland gelegenen Orte werden von den Migranten unfreiwillig besiedelt. Selten ist nachvollziehbarer als hier, warum die Migranten selbst in Bezug auf die von ihnen bewohnten Gebiete von »Ghettos« sprechen.
Warum eine Untersuchung zu diesem Thema aus landschaftsarchitektonischer Sicht?
Für den hier zugrunde gelegten landschaftsarchitektonischen Zugang sind die Motive der susbsaharischen Migranten, die Dokumentation des Lebens und des Alltags während des MIgrationsprozesses sowie die Versorgungsnetzwerke und das übergeordnete migratorische System von zentraler Bedeutung. Was die Arbeit aber vor allem ausmacht, ist die Form der Darstellung mit umfangreichem selbst erstelltem Kartenmaterial und Informationsgrafiken, wie beispielsweise einer Darstellung der Grenzanlage in Melilla oder der Transportsysteme der Schlepperorganisationen (Afrod und Transa). Die Hinzunahme eines landschaftsarchitektonischen Blicks, der in der gegenwärtigen Forschung bisher fehlt, erlaubt es, das Migrationssystem auf unterschiedlichen Maßstabsebenen zu untersuchen. Dadurch sind tiefergehende Analysen der Routen, Transitorte, Transportsysteme, sowie der Versorgungs- und Informationsnetzwerke möglich, unter anderem in Hinblick darauf, wie sich die Migranten an die räumlichen und landschaftlichen Gegebenheiten anpassen und wie Migrationsdynamiken, natürliche und soziale Faktoren sich wechselseitig beeinflussen. Denn ebenso wie unterschiedliche Merkmale von Orten die Herausbildung bestimmter Migration-Hubs oder Migrationsrouten begünstigt haben, so haben Migranten und Migration diesen Orten ihren unsichtbaren Stempel aufgedrückt und diese verändert. Die Geschichte der Migranten ist das Ergebnis der Verbindung unterschiedlicher Orte, die sie auf ihrem Weg (immer wieder) passieren. Gleichzeitig konfigurieren die Migranten die Orte und deren Beziehungen selbst ständig neu.