Wiesbaden, 16. Juli 2020. „Der Putschversuch und die darauffolgende Reaktion von Präsident Erdoğan haben der türkischen Demokratie und den Hochschulen massiv geschadet. Wie beim Militärputsch 1980, sind seit dem 15. Juli 2016 auf Veranlassung von Präsident Erdoğan systematisch tausende von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Studierende in der Türkei verfolgt, entlassen und vor Gericht angeklagt worden. Offenbar hat Staatspräsident Erdoğan solch eine Angst vor der Freiheit von Lehre und Forschung, dass er diese abschaffen möchte“, so Dr. Kambiz Ghawami, Vorsitzender des World University Service (WUS) zu den Entwicklungen in den letzten vier Jahren in der Türkei.
„Es geht Präsident Erdoğan um einen systematischen Rückbau von republikanischen Errungenschaften, die Kemal Atatürk, Begründer der Republik Türkei und ihr 1. Präsident nach Ende des Osmanischen Reiches, in die Verfassung geschrieben hat. So steht in Artikel 27 der türkischen Verfassung: ‚Jedermann hat das Recht, Wissenschaft und Kunst frei zu lernen und zu lehren, zu äußern, zu verbreiten und in diesen Bereichen jede Art von Forschung zu betreiben.‘ Dass dies in der Realität nicht mehr gilt, zeigen die bis heute anhaltenden Verhaftungen und Verurteilungen von Studierenden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Berufsverbote und deren Exilierung“, so Dr. Ghawami.
Dass nun auf Betreiben von Präsident Erdoğan das Weltkulturerbe Hagia Sophia zur Moschee umgewandelt wird, ist ein weiterer systematischer Schritt zur Abschaffung des demokratischen, laizistischen und sozialen Rechtsstaats, wie es im Artikel 2 der türkischen Verfassung verbrieft ist.
Dass er, Recep Tayyip Erdoğan, ein gefälschtes Universitätsdiplom aus dem Jahre 1981 der Marmara-Universität als akademischen Grad angibt, laut türkischer Verfassung (Artikel 101) eine Grundvoraussetzung um für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren zu können, zeigt sein mangelndes Rechtsverständnis und die Aushölung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, da weder die Wahlkommission dies beanstandet hat noch bis heute entsprechende parlamentarische Anfragen seitens der türkische Regierung beantwortet wurden. Die Marmara-Universität wurde erst 1982 gegründet. Der Dekan und der Rektor der Universität, die beide die Urkunden unterschrieben haben sollen, nahmen ihre Tätigkeiten auch erst 1982 auf. Ein klarer Fall für die Staatsanwaltschaft in der Türkei, die aber untätig blieb und bleibt.
Die internationale Scientific Community hat sich in den letzten Jahren solidarisch gezeigt und es sind z. B. an deutschen Hochschulen etliche türkische Exilwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler und Studierende aufgenommen worden. Dies auch als Dank gegenüber der Türkei unter Präsident Kemal Atatürk, der zahlreichen Exilanten aus Deutschland während der Nazi-Zeit an den türkischen Universitäten Schutz und Aufnahme gewährte., so z. B. dem späteren regierenden Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter, dem Komponisten Paul Hindemith oder dem Finanzwissenschaftler Fritz Neumark.
„Es bleibt nur zu hoffen, dass Präsident Erdoğan bei seinem nächsten Besuch der Hagia Sophia die ‚göttliche Weisheit‘ zuteil wird und er die Verfassung der Republik Türkei nicht weiter missachtet und damit aufhört, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Studierende unter Generalverdacht zu stellen und zu verfolgen – nur weil sie von ihrem Grundrecht der freien Meinungsäußerung Gebrauch machen und sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit auf Artikel 27 der türkischen Verfassung berufen. Die Autonomie und Freiheit von Lehre und Forschung ist ein Grundpfeiler der internationalen Scientific Community, die von jeder Regierung zu respektieren ist“, so Dr. Ghawami.
Wie sagte Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Einweihung des Campus der Türkisch-Deutschen Universität am 24. Januar 2020 in Istanbul in Anwesenheit von Präsident Erdoğan zu Recht „……….Diese Angebote stehen beispielhaft dafür, dass Wissenschaft und Bildung wie jede Form menschlicher Entfaltung und produktiver Neugier von Menschlichkeit und Freiheit getragen und gefördert werden. Oder um es mit Worten Albert Einsteins auszudrücken: Neugier ist ein verletzliches Pflänzchen, das nicht nur Anregung, sondern vor allem Freiheit braucht. Im Grunde kann man es auf eine einfache Formel bringen: Je größer die wissenschaftliche Freiheit ist, umso größer ist auch der wissenschaftliche Ertrag. Die Wissenschaft muss die Freiheit haben, in neue Richtungen zu denken. Sie braucht kritischen Diskurs und geistige Offenheit, wenn sie Fortschritt vorantreiben soll.“ Offenbar hat Präsident Erdoğan dies nicht verstanden.