Examensarbeit, Institut für Sport und Sportwissenschaft, 108 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
„Jede geistige Bewegung oder Richtung ist erst dadurch als Bildungsmacht auf Dauer anerkannt und gesichert, daß ihren Bildungszielen und Bildungsmitteln eine Stellung im Lehrplan eingeräumt wird.“ (Zitiert nach Vollstädt, Witlof 2003)
Der Bildung für nachhaltige Entwicklung wurde in Form der interdisziplinären Leitperspektiven eine solche Stellung im neuen baden-württembergischen Bildungsplan 2016 eingeräumt. Konsequenterweise müsste die Bildung für nachhaltige Entwicklung mit angemessener Vorlaufszeit innerhalb der lehramtsspezifischen Studiengänge implementiert worden sein, um gewährleisten zu können, dass die angehenden Lehrkräfte den neu geschaffenen curricularen Anforderungen gerecht werden. Denn spezifisches Wissen über die Nachhaltigkeitsthematik und über den erwünschten methodisch-didaktischen Rahmen, sowie Kompetenzen für das fächerübergreifende Implementieren der Bildung für nachhaltige Entwicklung, müssen zuerst erworben werden, bevor sie im Kontext Schule angewandt werden können. Damit der Übergang vom Bildungsadressaten - dem/der Lehramtsstudenten/in in der Universität als Bildungsempfänger – zum Bildungsadressanten – dem/der ehemaligen Lehramtsstudenten/in als Lehrkraft in der Schule – möglichst reibungsfrei verläuft, sollte die inhaltliche curriculare Kongruenz der schulischen und der universitären Lehrinstitutionen möglichst hoch sein. Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt auf der Untersuchung eben dieser inhaltlichen Kongruenz bezüglich der Nachhaltigkeitsthematik, welche sich über sämtliche lehramtsspezifische Studiengänge des Sommersemester 2017 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg erstreckte.
Nach einer theoretischen Einführung in die Nachhaltigkeitsthematik (Kapitel 2.1) wird die historische Hinführung zum Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung anhand der wichtigsten Meilensteine chronologisch beleuchtet (Kapitel 2.2). Was folgt, ist ein genauer Blick auf den Implementierungsprozess der Bildung für nachhaltige Entwicklung in den schulischen Bildungsplan und eine bildungstheoretische Auseinandersetzung mit dem Bildungs- und Erziehungsbegriff (Kapitel 2.3). Die anschließende Darlegung des aktuellen Forschungsstands (Kapitel 3) dient als Grundlage und Orientierungshilfe, die erhobenen Forschungsergebnisse einordnen und bewerten zu können. Nachdem die angewandte Methodik vorgestellt wurde (Kapitel 4), werden schließlich die Forschungsergebnisse präsentiert, und deren Auffälligkeiten kommentiert (Kapitel 5).
Das evaluierte Ergebnis für die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg fällt ernüchternd aus, und fügt sich nahtlos in das düstere Bild ein, das durch ein Blick in den aktuellen Forschungsstand gewonnen wird: „Bisher gibt es in Deutschland keine einzige Hochschule, die [Bildung für nachhaltigen Entwicklung] tatsächlich als Querschnittsanliegen der [Lehrer/innenausbildung] versteht und systematisch in die Fächer, Fachdidaktiken, Bildungswissenschaften sowie auch die schulpraktischen Studien integriert.“
In Zahlen formuliert stellt sich die Sachlage wie folgt dar: über alle lehramtsspezifischen Studiengänge hinweg, lassen sich lediglich 45 Veranstaltungen mit Nachhaltigkeitsbezug ausmachen. Verteilt auf 27 Fachbereiche ergibt diese eine Veranstaltungsdichte von 1,66 Veranstaltungen mit Nachhaltigkeitsbezug pro Fachbereich. Die extreme Konzentration auf einzelne Fachbereiche muss als zusätzlich problematisch bewertet werden. Mit 15 Fachbereichen ohne eine einzige ausgemachte Veranstaltung mit Nachhaltigkeitsbezug, muss das Bestreben die Bildung für nachhaltige Entwicklung in alle Fachbereiche zu implementieren für das vorliegende Forschungsdesign als gescheitert betrachtet werden.
Im Zuge der Ursachenforschung wurden zwei potentielle Erklärungsansätze gefunden. Die erste mögliche Ursache betrifft den Bildungsplangeneseprozess, welcher als zentraler Gelingensfaktor einer curricularen Kongruenz ausgemacht wurde. Auf Grundlage eigener Recherche, muss davon ausgegangen werden, dass die Vertreter der Hochschulen nicht direkt in der Bildungsplankommission vertreten sind. Diese defizitäre Kommunikationsstruktur zwischen Bildungsplankommission, Schule und Hochschule gleicht einem Restaurant, dessen Geschäftsleitung neue Speisekarten drucken und einführen lässt, ohne vorher mit der Küche abzusprechen, ob die benötigten Zutaten und die notwendigen Kompetenzen diese zu verarbeiten, überhaupt vorhanden sind. Ein solches Vorgehen mündet zwangsläufig in einer fehlenden curricularen Kongruenz zwischen Schule und Hochschule. Eine zweite Ursache, welche als Erklärungsansatz für die nicht vorhandene systemische und strukturelle Verankerung der Bildung für nachhaltige Entwicklung innerhalb der Lehrer(aus)bildung und für die daraus resultierende curriculare Kongruenz herangezogen werden kann, ist der wissenschaftliche Status, den die Bildung für nachhaltige Entwicklung innehält. Gemeint ist der nichtexistierende Status als eigenständige wissenschaftliche Disziplin und daraus abgeleiteten interdisziplinären Charakter. Die Bildung für nachhaltige Entwicklung scheint im breitgefächerten Fächerkanon, aufgrund der fehlenden strukturellen Verankerung in einem eigenen Fachbereich, teilweise verloren und verwaist.
Was jedoch hoffen lässt ist die neue Prüfungsordnung des Polyvalenten Zwei-Hauptfächer Bachelor, welcher aufgrund der verpflichtenden Einführung der Querschnittskompetenz Bildung für nachhaltige Entwicklung als erster Schritt zu einer akademischen Implementierung der Nachhaltigkeitsthematik innerhalb der Lehrerausbildung betrachtet werden kann. Was bleibt ist die fragwürdige zeitliche Abstimmung des Kultusministeriums. Innerhalb einer schlüssigen Funktionslogik steht der Kompetenzerwerb stets vor der Kompetenzvermittlung, was bedeutet, dass der Fokus zuerst auf die Lehrer/innenausbildung, also auf die den Kompetenzerwerb gelegt werden sollte. Erst danach sollten die neuen Bildungspläne eingeführt werden, welche mit neuen Kompetenzanforderungen an die Lehrer/innen einhergeht. Durch das gewählte Vorgehen hat das Kultusministerium als höchste bildungspolitische Autorität einen hausgemachten, im besten Falle nur einen vorübergehenden, Bildungsnotstand im Bereich der Bildung für nachhaltige Entwicklung geschaffen.
Wer einen handlungsorientierten Ausblick wagt, sieht sich mit einer weiteren Herausforderung konfrontiert, die den Rahmen der vorliegenden Arbeit zwar übersteigt, jedoch trotzdem gelöst werden sollte. Das primäre selbsternannte Ziel der Bildung für nachhaltige Entwicklung ist die Gestaltungskompetenz, welche auf eine andauernde Verhaltensänderung abzielt. In Anbetracht dieses ambitionierten Unterfangens, muss konstatiert werden, dass das Format der Leitperspektive und die im Bildungsplan eingeräumten Ressourcen den Ansprüchen der Bildung für nachhaltige Entwicklung nicht gerecht werden. Es muss der Anspruch gestellt werden dürfen, die Bildung für nachhaltige Entwicklung auf eine Prioritätsstufe mit den vorhandenen Schulfächern zu hieven. Das zugrundeliegende normative Leitbild, das „System Erde in seiner Funktionsweise dauerhaft aufrechtzuerhalten“ (Pufé, Iris 2014)sollte Legitimation genug sein. Wie die konkrete Umsetzung auch aussehen mag: die Bildung für nachhaltige Entwicklung bedarf dringend einer Emanzipation von ihrem limitierenden interdisziplinären Charakter.