Masterarbeit, Fachbereich Erziehungswissenschaft, 113 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Aktuelle globale Probleme, wie z.B. der Klimawandel, die Abholzung der Regenwälder oder der fortschreitende Verlust biologischer Vielfalt, haben soziale Probleme wie Armut und Ungleichheit, welche sich bspw. konkret in Billiglöhnen und Kinderarbeit zeigen, unmittelbar zur Folge. Das dadurch verschärfte Ungleichgewicht der systemischen Beziehung von ökologischer Funktionsfähigkeit, ökonomischer Leistungsfähigkeit und sozio-kultureller Chancengleichheit ist Ausgangspunkt der Masterarbeit (vgl. Kruse 2013).
Mit der gleichzeitigen Entwicklung eines inclusive education system, erscheint spätestens seit 2009 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung als weitdiskutiertes Thema in Bildungsdiskursen. Die vorliegende Arbeit arbeitet die Verbindungen der Diskurse zu Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und inklusiver Bildung heraus, bzw. führt diese zusammen. Auf der Grundlage von Dokumenten internationaler Organisationen (wie z.B. der Weltbildungsbericht der UNESCO) werden die darin entworfenen und veröffentlichten Visionen einer inklusiven, gleichberechtigten, hochwertigen und lebenslangen Bildung und Erziehung zusammengefasst und mit einem Fokus auf inklusive frühkindliche Bildung analysiert.
Die Pluralisierung und Individualisierung von Lebensformen brachte u.a. Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt mit sich, wodurch die Bedeutung von institutionellen Angeboten in der frühkindlichen Bildung zunahm. Mit dem institutionellen Wandel änderte sich entsprechend auch das Verständnis frühkindlicher Bildung. Die Entwicklungen stießen neue Diskurse im Bildungsverständnis an, welche die Arbeit aufgreift und sich für ein Bild vom Kind als Welterforscher (vgl. z.B. Schäfer 2014) und Akteur und Ko-Konstrukteur seiner Entwicklung (vgl. z.B. Stoltenberg 2011; Dahlberg 2010) ausspricht. Dagegen werden Kompetenzkonzepte, wie sie in im Konzept der BNE (de Haan et. al. 2008) stark gemacht werden, im Hinblick auf eine inklusive Perspektive kritisiert. Bildung wird in dieser Arbeit viel mehr als sozialer Prozess verstanden, welche immer auch wandelbar ist und sich nur im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen verstehen lässt (vgl. z.B. Dahlberg 2010; Fthenakis 2003).
Die Personengruppe von Kindern mit Komplexer Behinderung(1) wird in den Mittelpunkt dieser Arbeit gerückt. Diese äußerst heterogene Personengruppe gilt als ein Verlierer oder eine Randgruppe aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen in Deutschland, besonders derzeitiger inklusiver Bemühungen (vgl. Fornefeld 2008).
Auf Grundlage dieser Erkenntnisse lässt sich für die vorliegende Arbeit folgende Fragestellung ableiten: Wie lässt sich Bildung für nachhaltige Entwicklung inklusiv, unter der besonderen Berücksichtigung von Kindern mit Komplexer Behinderung, in Kindertageseinrichtungen umsetzen? Dabei wird literaturbasiert gearbeitet und aufbauend auf die theoretische Auseinandersetzung und Diskussion im abschließenden Teil der Arbeit ein Konzeptentwurf zum Theorie-Praxis-Transfer gewagt. Dabei werden die theoretischen Erkenntnisse aus der Arbeit, in praktische Überlegungen transferiert.
Bei der Auseinandersetzung mit BNE und Inklusion wird aufgedeckt, dass es sich um offene gesellschaftliche Suchprozesse handelt, in denen das Prinzip der Partizipation wegweisend ist, aber in denen auch Auseinandersetzungen, Konflikte und Probleme auftreten dürfen, mehr noch notwendig sind, um die konsequente Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Umstrukturierung zu garantieren.
Kinder mit Komplexer Behinderung sind in ihren heterogenen Lebenslagen in diesen Prozessen immer noch gefährdet, aus dem Blick zu geraten. Deshalb erscheint es überaus wichtig, auch für sie immer wieder Bildungsmöglichkeiten herauszuarbeiten und konzeptionell zu verankern, welche besonders das Erleben von Selbstwirksamkeit, Teil einer Gruppe zu sein und Bildungsmöglichkeiten zu erhalten, sichert. Darüber hinaus erscheint es sinnvoll sich tiefgreifender und anerkennender einem breiteren Bildungsbegriff zu zuwenden, der z.B. Basale Angebote und Lernen durch Berührung aufgreift. Erste Ideen dazu werden im Impuls zum Erfahrungslernen (Kapitel 4) ausgeführt.
Der Theorie-Praxis Transfer (Kapitel 4) arbeitet auf Grundlage des diskutierten Bildungsverständnisses etc. insbesondere die Bedeutung von Naturerfahrungen heraus und zeigt anhand von beispielhaften Methoden, Möglichkeiten auf BNE inklusiv in frühkindlichen Bildungsprozessen zu verankern und insbesondere Kinder mit Komplexer Behinderung an dieser Stelle mitzudenken.
Zentrale Ergebnisse der Arbeit sind, dass die Anerkennung von Bildung für nachhaltige Entwicklung für alle Kinder nicht nur möglich, sondern vor allen Dingen nötig ist. Darüber hinaus wird ein Vorschlag erarbeitet, wie BNE mehr im Fokus des Erfahrungslernens und weniger als Kompetenzorientierung gedacht werden kann. Für den benannten Perspektivwechsel von der Kompetenzorientierung weg, hin zum Erfahrungslernen, aber auch allgemein für inklusive frühkindliche Bildungsprozesse wird in der Arbeit an unterschiedlichsten Punkten immer wieder die Bedeutung pädagogischer Fachkräfte herausgestellt. Diese tragen eine anspruchsvolle Aufgabe und große Verantwortung für inklusive und nachhaltige Bildungsprozesse.(2)
Dabei ist die Reflexionsfähigkeit ein zentrales Instrument zur Sicherung der Professionalisierung der Fachkräfte und damit auch zur Begleitung und Unterstützung der Bildungsprozesse bei den Kindern. Entgegen gesellschaftlicher Strukturen und Weiterentwicklungen (z.B. die Ausbildung subjektiver Bewältigungsstrategien für gesellschaftliche Probleme), ruft diese Arbeit dazu auf, die Vermittlung und das aktive Ausüben von Werten wie Solidarität, Gerechtigkeit und Empathie mit Kindern zu fokussieren. In dieser Hinsicht sollten Bildungsprogrammatiken erneut überdacht werden, so auch das Konzept der Gestaltungskompetenz (de Haan et al. 2008). Nicht nur im Bereich der BNE, als ferner im ganzen frühkindlichen Bildungsbereich wirft die vorherrschende Kompetenzorientierung viele Fragezeichen auf. Insbesondere auch in Bezug auf staatlich geforderte inklusive Veränderungen.(3) Insbesondere die frühkindliche Bildung hat die Möglichkeit Impulse des Umdenkens anzuregen, die ein Begreifen der Natur als Mitwelt ermöglicht und so zu einem Leben in einer zukunftsfähigen Gesellschaft beiträgt. Besonders die natürliche Mitwelt trägt ein hohes inklusives Bildungspotenzial mit sich.
1 Der Terminus Komplexe Behinderung entsteht auf der Grundlage eines verstehenden anthropologisch-phänomenologischen Zuganges zum Forschungsfeld. Es geht demnach also „nicht darum, zu verstehen was Behinderung ist, sondern um das, was Behinderung ausmacht, d.h. es geht um die Erfassung des ‚Wesens‘ von Behinderung“ (Fornefeld 2008, S. 66). Bei bisherigen Definitionen handelt es sich um Eigenschaftsbeschreibungen, die systembedingte Kontextfaktoren außer Acht lassen. In ihrer Heterogenität bildet der Personenkreis eine Einheit, die von denselben Ausschlusskriterien und Exklusionsmechanismen betroffen ist. Zu den Ausgeschlossenen gehören Menschen mit geistiger Behinderung und - herausforderndem Verhalten, psychischen Störungen, schwerer Behinderung, Multimorbidität, ohne Verbalsprache, Migrationshintergrund, Suchtverhalten, Autismus etc. Bei dieser ausschnittsweisen Auflistung lässt sich erahnen wie unterschiedlich die Bedürfnisse dieser Menschen sind. Gemeinsam ist ihnen jedoch der Stand am Rande der Gesellschaft, vergleichbare Gefährdungen der Lebensqualität und der Anspruch auf Unterstützung (vgl. ebd., S. 57f.)
2 Der Zusammenhang von inklusiven und nachhaltigen Bildungsprozessen wird insbesondere als gegenseitiges wie charakterisiert (siehe 2.4 und 2.5).
3 Hier fällt unter anderem das SDG 4 rein, aber auch gesetzliche Verankerungen, wie z.B. in der UN-Behindertenrechtskonvention.