„Die Würde des Menschen ist abschiebbar“ – eine qualitativ-empirische Untersuchung zu Isolationshaft in Abschiebehaft NRW

Autor: Droste, Lina
Jahr: 2019

Masterarbeit, Fachbereich Erziehungswissenschaft, 95 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

Die Masterarbeit thematisiert die menschenrechtlich nicht legitimierbare Situation von Menschen in Abschiebehaft in Nordrhein-Westfalen, insbesondere derer in Isolationshaft. Die Bearbeitung folgender Fragestellungen leistet einen Beitrag zur Analyse migrationsgesellschaftlicher Verhältnisse der Gegenwart: Welche strukturellen Bedingungen rahmen die Isolationshaft in Abschiebehaft in NRW und den Zugang der Gefangenen zu nicht-staatlicher Unterstützung? Und wie gestalten sich in diesem Rahmen die Handlungsmöglichkeiten von Unterstützer_innen?

Die heutige Praxis der Abschiebehaft in Deutschland bewegt sich im Kontext aktueller Gesetzgebungen und historisch-politischer Legitimierungen. So sollen die unterschiedlichen rechtlichen Formen der Abschiebehaft, die explizit keine Strafhaft darstellen, sondern eine Form von Zivilhaft, laut Gesetz administrative Zwecke erfüllen: die Erleichterung der Durchführung einer Abschiebung. Hierzu können Menschen bis zu 18 Monate ihrer Freiheit beraubt werden. Die antisemitischen Ursprünge der gesetzlichen Regelungen der Abschiebehaft lassen sich bis in die Weimarer Republik zurückverfolgen, als sie im Jahr 1919 zum ersten Mal in deutsches Gesetz aufgenommen wurde. Seitdem wurde Abschiebehaft in verschiedenen politischen Systemen in Deutschland kontinuierlich legitimiert, verschärft und geformt, sodass sich bspw. noch heute Wortlaute aus der Ausländerpolizeiverordnung vom 22. August 1938 im Aufenthaltsgesetz zur Abschiebehaft wiederfinden. Der aktuelle Forschungsstand zu Isolationshaft in Abschiebehaft und den Zugang von Gefangenen zu nicht-staatlicher Unterstützung stellt eine massive Forschungslücke dar.

Aus dem lückenhaften Forschungsstand ergibt sich die explorative Herangehensweise an den Forschungsgegenstand, die durch die Kombination verschiedener ethnografischer Methoden zur Datenerhebung, Datenauswertung und Darstellung durchgeführt wird. Die Erhebung der Daten mit Hilfe von teilnehmender Beobachtung und Interviews, die in Anlehnung an Pierre Bourdieus’ Verstehensmethode (1993) erfolgten, fordern eine reflexive Haltung der Forschenden. Die Analyse der erhobenen Daten ist an grundlegende Strategien ethnografischer Datenanalyse von Breidenstein et. al. (2013) angelehnt und zieht zudem das Instrument der Situations-Maps nach Adele E. Clarke (2013) heran. Unter der gemeinsamen epistemologischen Prämisse der verschiedenen Ansätze, dass der gesamte Forschungsprozess von den gesellschaftlich bedingten Denk- und Erkenntnisweisen der Forschenden abhängt, bedingt die subjektive Perspektive der Forscherin die Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns. Unterschiedliche Verstrickungen der verschiedenen Positionen als weißsubjektivierte Studentin, Forscherin und Aktivistin mit deutscher Staatsangehörigkeit im Feld generieren bestimmte Erkenntnisse und machen andere unzugänglich. Forschungsethische Überlegungen zur besonderen Schwere des Gegenstandes, zu (Un)Möglichkeiten der Anonymisierung, zur politischen Stoßrichtung und der Wirkmächtigkeit der Forschung begründen den Fokus der empirischen Forschung auf die strukturelle Rahmung von Abschiebungshaft.

In der Bearbeitung der ersten Fragestellung werden zahlreiche strukturelle Missstände des Abschiebehaftvollzugs im Abschiebegefängnis Büren herausgestellt. Unter Einbezug von rassismuskritischen Ansätzen von Paul Mecheril und Claus Melter (2010) – insbesondere mit Bezug auf das Konzept des (Institutionellen) Rassismus von Mecheril und Alisha Heinemann (2016), Ute Ostkamp (1997) und von Margarete Jäger und Siegfried Jäger (2007) – wird diskutiert, dass die generelle Praktik der Abschiebehaft in Deutschland und ihr Vollzug von historisch gewachsenen rassistischen Diskursen getragen wird, die Menschen zu ‚natio-ethno-territorial-kulturellen Anderen‘ machen, wodurch diese mit weniger Rechten als ‚den Eigenen‘ ausgestattet werden. Im Falle der Abschiebehaft wendet der deutsche Staat das härteste Mittel an, das ihm als Eingriff in die Autonomie von Menschen zur Verfügung steht. Unschuldige Menschen werden allein aufgrund ihres zugeschriebenen Status‘ als ‚Andere‘ ihrer Freiheit beraubt. Zudem werden im Haftvollzug rechtsstaatliche Prinzipien und die von den Vereinten Nationen geforderten Mindeststandards für gefangene Menschen unterlaufen. Dies geschieht, obwohl der Europäische Gerichtshof entschieden hat, dass Abschiebegefangene gegenüber Strafgefangenen grundlegend bessergestellt werden müssen. Vor allem durch die Verschärfung des AHaftVollzG NRW, das den Vollzug des Bürener Abschiebegefängnisses regelt, hat die Landesregierung NRW trotz scharfer Kritik von ‘Flüchtlingshilfsorganisationen’ die Macht der Einrichtungsleitung stark ausgeweitet und zugleich die Rechte der Gefangenen massiv beschnitten. Darunter fällt unter anderem, dass die Gefängnisleitung Isolationshaft in ihren verschiedenen Ausgestaltungen, darunter auch die Fesselung von Gefangenen, ohne richterliche Kontrolle anordnen kann und zugleich die gerichtliche Zuständigkeit für Beschwerden seitens der Gefangenen ungeregelt bleibt. Die strukturelle Rahmung des Haftvollzugs bietet einen Rahmen der Kontrollfreiheit und Willkür im Umgang mit den isolierten Gefangenen durch Beschäftigte. Praktiken wie die Isolation psychisch auffälliger Personen, systematischer Schlafentzug, die Fesselung von (vollkommen) entkleideten Gefangenen, die generalpräventive Anwendung von Isolationshaft ohne individuelle Begründung, uvm. werden in vielen Aspekten als erniedrigend, unmenschlich und z.T. sogar als Folter im Sinne der Antifolterkonvention eingestuft. Zusätzlich wird den isoliert inhaftierten Personen die Möglichkeit, zu ihren Rechten zu kommen, durch die Einschränkung des Zugangs zu nicht-staatlicher Unterstützung durch Unterstützer_innen erschwert oder gänzlich genommen. Es bestehen trotz enormen Bedarfes bisher keine bezahlten unabhängigen Stellen, die die Gefangenen unterstützen. Ein unabhängiger Verein, dessen aktiv Tätige ausschließlich ehrenamtlich arbeiten, stemmt hier unter prekären und repressiven Bedingungen die einzige Unterstützungsarbeit. Er fordert daher die Einrichtung landesgeförderter Verfahrensberatungs- und Beschwerdemanagementstellen, die von unabhängigen Träger_innen besetzt werden und deren Zugang zu allen Gefangenen sichergestellt werden soll, wodurch die ehrenamtliche Tätigkeit ergänzt würde. In diesem Rahmen wird die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten von nicht-staatlichen Unterstützer_innen in der Arbeit mit isoliert Inhaftierten diskutiert. Die Qualität ihrer Arbeit bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen struktureller Rahmung der Arbeit und Adressat_innenorientierung, wobei die Haltung der haupt- und ehrenamtlichen Unterstützer_innen eine immense Rolle spielt. Gerade im Kontext einer geschlossenen Einrichtung und den gesetzlichen Unterfangen der Landesregierung, die die Rechte der Gefangenen ausschließlich auf Grundlage von Informationen der Gefängnisleitung und ohne Einbezug von Inhaftierten und ihren Unterstützer_innen aushöhlt, ist eine politische Unterstützungsarbeit notwendig. Durch Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit kann sie strukturelle Änderungen für die Adressat_innen erkämpfen und verliert nicht jeglichen Anspruch auf professionelles Handeln auf fachlicher und ethischer Grundlage. Um die rassistische Grundstruktur zu erkennen und nationalstaatlichen Ausgrenzungslogiken entgegenzutreten, muss der Arbeit der Unterstützer_innen eine rassismuskritische Haltung zugrunde liegen, die von allen Akteur_innen gefördert werden muss.

Aus der explorativen Forschung ergeben sich neben den inhaltlichen Erkenntnissen in Bezug auf den Gegenstand zudem viele herausfordernde Möglichkeiten und Notwendigkeiten, den Gegenstand unter anderen method(olog)ischen Perspektiven, wie z.B. eine Analyse aus Sicht der Gefangenen oder der Fokus auf widerständige Praxen, zu betrachten. Hinzu ergeben sich aus der Forschung zahlreiche, bisher wissenschaftlich noch nicht problematisierte thematische Schwerpunktsetzungen, wie bspw. Die Verstrickung gesellschaftlicher Akteur_innen in rassistische Machtgefüge. Um die rassistische Praktik der (Isolationshaft in) Abschiebehaft zu entlarven und einen starken Gegendiskurs zu bilden bedarf daher es einer vielseitigen wissenschaftlich und zivilgesellschaftlich politischen Kritik.