Einwandern in ein Auswanderungsland: Vietnamesische Migranten in Polen

Autor: Piotr, Franz
Jahr: 2015

Masterarbeit, Fachbereich Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropa, 101 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

Auswanderung und Migration bilden eine für die polnische Gesellschaft der Vergangenheit und Gegenwart konstituierendes Element. Während sich in Großbritannien gegenwärtig im Zuge des Votums für oder gegen den Verbleib des Königreichs in der Europäischen Union ein Bild wachsender Xenophobie und fremdenfeindlicher Gewalt abzeichnet, rückt die Frage nach der Bedeutung von Migration für die Aufnahme- und Herkunftsgesellschaften in den Mittelpunkt der politischen und medialen Aufmerksamkeit. Im Falle Polens und seiner millionenfachen Diaspora in den Staaten Europas, lässt sich die Feststellung machen, dass die Lebenswelt jeder Generation polnischer Bürger auf diese oder andere Weise gravierend von Migrationsphänomenen geprägt war. Im Rahmen global umfassender Migrationsströme ist jedoch auch Polen ein Ziel von Zuwanderung geworden. Besonders die Zuwanderung von Vietnamesen macht sich im Straßenbild der Großstädte bemerkbar, das sonst ein außergewöhnlich hohes Maß an ethnischer Homogenität aufweist. Warum und seit wann wandern Vietnamesen nach Polen aus und was sagt das über die Rolle Polens in der Welt aus? Wer sind die Zuwanderer, welchen rechtlichen Status genießen sie und was sagt das über Polen als Rechtsstaat und Migrationsziel aus? Wie ist die vietnamesische Community aufgebaut, wie ist die integriert, wie ist das gegenseitige Verhältnis von Vietnamesen und Polen zueinander und was sagt das über die Beschaffenheit der vietnamesischen Community und über die polnische Gesellschaft selbst aus? Der Erörterung dieser Fragestellung geht ein historischer Teil voraus, der die Disposition der polnischen Gesellschaft als klassisches Auswanderungsland untersucht und als kollektive Erfahrung herleitet. Zwangsweise Umsiedlungen im Zuge des Zweiten Weltkrieges werden dabei ebenso avisiert wie das strikte Migrationsregime der Volksrepublik Polen und die stattgefundene Metamorphose einer Gesellschaft, die ehemals von Multiethnizität, Multilingualität und Multikonfessionalität geprägt war und seit Kriegsende in dieser Hinsicht enorm homogen wurde. Sowohl die Dimension, als auch die wiederkehrende Aktualität von Entwurzelung und Auswanderung qualifizieren Migration folglich als nationale Erfahrung, die ein kollektives Selbstbild als Auswanderungsland konstituiert und sich generationenübergreifend und tagesaktuell reproduziert. Die außergewöhnlichen Umstände der vietnamesischen Diaspora in einer hoch homogenen Gesellschaft werden auch im Lichte der radikalen, systemischen Umbrüche vor und nach dem Zerfall der staatssozialistischen Herrschaft in Europa gespiegelt, da sich auch der Kollaps des staatssozialistischen Systeme Mittel- und Osteuropas als spezifische Erfahrung der Polen manifestiert. Diese Zäsur wirkte sich auf zweierlei Weise auf das Migrationsgeschehen in Polen aus. Zum einen löste der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer unmittelbaren Vorherrschaft im osteuropäischen Raum eine Migrationsdynamik aus, die Polen erstmalig seit Beginn des Zweiten Weltkrieges wieder zum Schauplatz von Einwanderung und Pendelmigration machte. Zum anderen evozierten die daraus resultierenden, radikalen, ökonomischen und politischen Reformprozesse der Transformationsperiode soziale Missstände und Unzufriedenheit, die sich wiederum rasch auf die Art und Weise auswirkten, wie die Gesellschaft die vietnamesischen Einwanderer wahrnimmt. Als drittes Betrachtungsprisma muss der Beitritt Polens in die EU im Jahr 2004 gedacht werden. Als östlicher Außenposten der EU ist die Einwanderungspolitik Polens primär von seiner Rolle als EU-Außengrenze definiert, und steht aufgrund einer schwachen zivilgesellschaftlichen Lobby für die Belange von Immigranten kaum unter parteipolitischem oder gesellschaftlichem Druck, die rigorose Einwanderungs- und rudimentäre Integrationspolitik – beides äußert sich in hohen Ablehnungsquoten gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden – zu überarbeiten. Der Grundstein für eine migratorische Verbindung zwischen Polen und Vietnam wurde mit der Schaffung von Hochschulkooperationen während der 1970er Jahre gelegt und bedingt die gegenwärtig in der Community manifeste Sozialhierarchie innerhalb der Gruppe. Die als Pioniergeneration begreifbare Gruppe der Austauschstudenten weist einen hohen Grad an sprachlicher, rechtlicher und ökonomischer Integration auf und strukturiert die als ethnisch, sozial, ökonomisch und rechtlich funktionierende Enklave nach Innen. Zu diesen Pionieren kamen nach 1989 Vietnamesen aus der ehemaligen DDR und all jene, die im Zuge der DoiMoi-Reformen Polen mit Katholizismus, Opposition gegen den Staatssozialismus und wirtschaftlichem Aufschwung assoziierten. Diese überwältigende Mehrheit der polnischen Vietnamesen befindet sich am unteren Ende der innerethnischen Hierarchie und verfolgt häufig eine ökonomische Strategie der Kapitalakkumulation auf Grundlage eines nur temporären Aufenthalts in Polen. Nichtsdestotrotz erweisen sich kriminelle Strukturen aus Menschenhändlern, Schleusern, einzelnen Vertretern der Pioniergeneration und auch aus der vietnamesischen Botschaft als Korsett, das die Erwerbsmigranten der untersten Hierarchieebene zu Arbeit unter menschenunwürdigen Konditionen zwingt. Das vorhandene statistische Material über das Kontaktverhalten zwischen Polen und Vietnamesen beschränkt sich auf wenige Warschauer Stadtbezirke und ergibt ein Bild, das zwischen starken Fremdheitsgefühlen und der Ansicht oszilliert, die Vietnamesen seien nicht integrationsfähig aber dafür ökonomisch bereichernd.