Staatsexamensarbeit, Fachbereich Geschichte, 88 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
In unserer heutigen Zeit verkörpert die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer freiheitlich demokratischen Grundordnung und wirtschaftlichen Stärke ein aussichtsreiches Emigrationsziel, welches eine oftmals lebensbedrohliche Überreise zu rechtfertigen scheint. Blickt man jedoch auf vergangene Jahrhunderte zurück, so waren vor allem im 19. Jahrhundert genau umgekehrte Verhältnisse anzutreffen. Der deutsche Südwesten um das Königreich Württemberg verlor in einer allgemeinen „Massenflucht“ ab dem Jahr 1846 jährlich etwa 1% seiner gesamten Bevölkerung. Die Beweggründe dieser Emigrationsströme des 19. Jahrhunderts unterschieden sich dabei in keiner Weise von jenen unserer aktuellen Zeit. Sowohl beispielsweise im heutigen Syrien als auch im damaligen Königreich Württemberg sorgen und sorgten ökologische, sozio-ökomische und politische Beweggründe für eine vermehrte Überwindung gewisser subjektiver Hemmschwellen hinsichtlich einer risikoreichen Auswanderung. Die Untersuchung und Erforschung vorangegangener Migrationsströme kann somit einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, auch heutige Flüchtlingsbewegungen besser zu verstehen und mögliche Lösungswege aufzuzeigen.
Das Königreich Württemberg sah sich in seinem 112-jährigen Bestehen mit mehreren 'Emigrationswellen' konfrontiert, welche durch internationale wie auch regionale Ereignisse beeinflusst wurden. Ökologische Krisenjahre wie beispielsweise infolge des Tamboraausbruchs im Jahre 1815 sorgten für Lebensmittelknappheiten und massive Teuerungen. Hinzu kam ein enormer Anstieg der Bevölkerung, welche aufgrund der praktizierten Realerbteilung und wachsender Arbeitslosigkeit häufig ihren Lebensunterhalt nicht mehr ausreichend finanzieren konnte. Bevölkerungsgruppen wie die Pietisten und Juden sahen sich mit politischen Verfolgungen und allgemeiner Diskriminierung konfrontiert. Darüber hinaus sorgten bestechliche Beamte, Vetternwirtschaft und das System der Leibeigenschaft für große soziale Spannungen. Zahlreiche Einschränkungen der Pressefreiheit und innenpolitische Unruhen im Zuge der gescheiterten Revolutionsbewegung von 1848 taten dabei ihr übriges. Neben diesem offensichtlichen Mangel an Freiheit trat die große Belastung des verpflichtenden Militärdienstes, welcher eine Flucht aus dem Königreich Württemberg ebenfalls begünstigte.
Während zu Beginn des 19. Jahrhundert die württembergische Bevölkerung bei der Wahl des Emigrationsziels vor allem Russland präferierte, konzentrierte sich die württembergische Auswanderung etwa ab dem Jahr 1830 auf die überseeische Auswanderung. Bei der Wahl eines geeigneten Emigrationsziels spielte dabei die private und gewerbliche Informationsverteilung durch beispielsweise Briefe oder Werbebroschüren eine zentrale Rolle. Der technische Fortschritt und das zunehmende Drängen von Kaufleuten in das lukrative Auswanderungsgeschäft führten dann im Laufe des Jahrhunderts zu einer allgemeinen Qualitätssteigerung und Risikoverminderung der überseeischen Auswanderung. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren das mit Abstand beliebteste überseeische Emigrationsziel, gefolgt von Australien und Südamerika. Innerhalb Europas emigrierte die württembergische Bevölkerung vor allem nach Russland, Österreich, Frankreich und in die Schweiz. Bei der Untersuchung des Emigrationsverlaufes fiel darüber hinaus auf, dass konkrete Ereignisse in Zielländern eine verstärkende oder vermindernde Wirkung auf die Emigration in jene Länder verursachen konnten. Während beispielsweise Goldfunde in Australien für kurzzeitige Auswanderungsschübe in dieses Emigrationsziel sorgten, schränkten unsichere Verhältnisse in der Zielregion wie beispielsweise während des amerikanischen Bürgerkrieges von 1861-1865 die entsprechende Auswanderung stark ein.
Die Auswanderung aus dem Königreich Württemberg fand hauptsächlich im nordwestlichen und westlichen Landesteil statt. Die Regionen um Marbach am Neckar, Backnang, Sulzbach, Großbottwar und Freiburg am Neckar sind dabei als Ballungszentren festzumachen. Im östlichen und südlichen Teil Württembergs ist hingegen eine sehr geringe Emigration festzustellen, welche sich in erster Linie auf größere Ortschaften beschränkte. Sicherlich spielte dabei die Verfügbarkeit der landwirtschaftlichen Nutzfläche, das regional unterschiedlich praktizierte Erbrecht und die allgemeine Qualität des Bodens eine entscheidende Rolle. Letztendlich konnte sich der württembergische Osten und Süden als deutlich krisenfester behaupten.