Migrationsbezogene Zuschreibungen und ihre Reproduktion durch SozialarbeiterInnen „mit Migrationshintergrund“

Autor: Erbasli, Eftelya
Jahr: 2017

Masterarbeit, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, 150 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

Die vorliegende Masterarbeit befasst sich mit migrationsbezogenen Zuschreibungen und ihrer Reproduktion durch SozialarbeiterInnen. Ziel der Arbeit bestand in erster Linie darin, zu untersuchen ob und wenn ja, inwieweit SozialarbeiterInnen migrationsbezogene Zuschreibungen vornehmen. Der Schwerpunkt liegt auf der Wahrnehmung von sogenannten Menschen mit Migrationshintergrund. Einige unserer Stereotypenbilder sind u.a. von Medien beeinflusst, durch Bilder von „unterdrückten Frauen“ und „aggressiven Männern“ werden MigrantInnen verstärkt fokussiert. Im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen Menschen mit Migrationshintergrund türkischer Abstammung und Muslime, da diese, auch im Hinblick auf den Forschungsstand, eine der stark stigmatisierten Gruppen darstellen. Zur Erforschung der Frage nach den Wahrnehmung von sogenannten Menschen mit Migrationshintergrund wurden drei narrative Interviews herangezogen. Die narrativen Interviews erfolgten mit zwei SozialarbeiterInnen (m,w), je türkischer Abstammung und einem Sozialarbeiter iranischer Abstammung, dessen Aussagen nur teilweise in die Auswertung einflossen (vgl. Thesis, Kapitel 6.2).

Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert, dem theoretischen Teil, der Forschungsmethode und Ergebnissicherung sowie der Auswertung der Ergebnisse. Grundlegende Begriffe, die die Migrationsdebatte in der deutschen Gesellschaft in den letzten Jahren geprägt haben, wie über die Zielgruppe „Menschen mit Migrationshintergrund“ und ihre Differenzierung durch den Begriff „Kultur“ wurden zunächst genauer untersucht und rekonstruiert. Im theoretischen Teil wurden außerdem Ansätze von Differenzierungsmerkmalen, wie die der Kultur-Konflikt – Theorie und Intersektionalität betrachtet. Eine Unterscheidung der Definition von Kultur, findet sich im Ansatz der „hybriden Kulturen“. Kultur wird hierbei weniger als ethnische Zuordnung, sondern mehr als Konstrukt gesehen, das fortwährend neue Dimensionen von Lebensweisen und Beziehungsebenen bietet (vgl. Thesis, Kapitel 2.4., S. 6). Eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Differenzierungsmerkmalen erfolgte m. E. des Othering-Prozess (Prozess des „Fremd-Machens“) und u.a. der Frage danach, wer den Fremden zum Fremden macht. Hierzu wurden gesellschaftliche Dichotomien wie bspw. hell/dunkel, weiblich/männlich, weiß/schwarz und Differenzierungsmerkmale wie Hautfarbe und Religion betrachtet, die die Zuordnung eines Menschen in die Gesellschaft bestimmen.

Der Fokus dieser Arbeit basiert auf die empirische Untersuchung. Im Hinblick auf den Forschungsstand galt es dazu folgende Frage zu beantworten: „Welche Bilder werden von türkischstämmigen SozialarbeiterInnen, auf welche Weise und in welchem Zusammenhang zueinander reproduziert?“ Um den Fokus des Erzählten auf die Forschungsfrage zu beschränken, wurden Fallbeispiele herangezogen. Die Befragten wurden dazu aufgefordert über einen Fall zu berichten, der 1. positiv gestaltet, 2. prägend und 3. schwierig war. Als Erhebungsmethode zur Ergebnissicherung wurde die Grounded Theory herangezogen, da sie zum Ziel hat alle Kontextbedingungen im fortwährenden Vergleich und ihrem Zusammenhang zueinander zu untersuchen.

Es konnte festgehalten werden, dass über die Ursprungsfrage nach den Bildern und Wahrnehmungen von MigrantInnen hinaus Themen wie Zuordnung in der Gesellschaft und Diskriminierungserfahrungen für die Befragten relevante Themen darstellen. Im Rahmen der Untersuchungen konnten neue Erkenntnisse für die Migrationsforschung gewonnen werden, die einer ausführlicheren Untersuchung bedarfen. So entstand aus den Beobachtungen in der Auswertungsphase die Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen der eigenen Biographie der Befragten und ihren Umgang mit der Zielgruppe „Menschen mit Migrationshintergrund“ gibt. Die Überprüfung dieser Annahme erfolgte durch konstantes Vergleichen der Aussagen von Befragten. Beispielsweise repräsentiert die Interviewte Zeliha in ihrer Darstellung eine selbstständig handelnde Migrantin, die sie als „emanzipierte Frau“ bezeichnet. An mehreren Stellen wird der schwere Kampf der Frauen um ihre Freiheit betont. Weiteren Aussagen ist zu entnehmen, dass sie selbst um ihre Emanzipation kämpfen musste. Eine ähnliche Darstellung bietet auch der Interviewte Semih dar, der die Jugendlichen als die „Diskriminierten“ beschreibt und später von seinen eigenen Schwierigkeiten als Jugendlicher berichtet.

Die Fallberichte basieren auf einer Vertrautheit zwischen den Befragten und der Zielgruppe. Der Migrationshintergrund wird hierbei als Instrument und Zusatzqualifikation zur Stärkung der Beziehungsarbeit gesehen. Die Befragten argumentieren in unterschiedlichen Rollen als Verteidiger oder Vermittler mit Vermutungen, Vergleichen mit Anderen und Extrembeispielen, insbesondere wenn es um einen „schwierigen Fall“ geht. Sie greifen dabei auf stereotypisierte Bilder zurück, z.B. vom „aggressiven Mann/Jugendlichen“ oder von der „unterdrückten Frau“. Den Jugendlichen scheint insbesondere in Gegenüberstellung zu ihren Eltern oder Anderen ein positives Bild zugeschrieben zu werden. So beschreibt Zeliha die „emanzipierte“ Esma in Gegenüberstellung zu ihrer „traditionellen“ Mutter. Semih hingegen stellt den Jugendlichen Issah zunächst als aggressiv und gewalttätig dar, indem er zum Beispiel Reizwörter wie „ein Messer“ benutzt. Der Schüler Issah, der den Beschreibungen nach mit dem Messer auf den Lehrer losging, hinterlässt einen schockierenden Eindruck, wodurch das Bild des aggressiven Jungen reproduziert wird. An anderer Stelle, insbesondere nach einer vertrauten Beziehungsarbeit sticht Issah als erster von Allen, der einen Ausbildungsvertrag unterschrieben hat, positiv hervor. Hier lässt sich ein Bild des fleißigen Schülers erkennen. Eine weitere neue Erkenntnis ist damit: Je nach erfolgreichem oder nicht erfolgreichem Ausgang der Fälle erscheint in den Beschreibungen ein „gutes“ oder eher „schlechtes“ Bild der Jugendlichen. Kinder und Jugendliche werden in Zusammensetzung mit ihren Eltern überwiegend als schutzbedürftige Menschen repräsentiert, bspw. im Fall vom „hin- und her verschobenen“ Kemal und der „verschleppten“ Aleyna, die ihren „verantwortungslosen“, „erziehungsfernen“ und „unterdrückenden“ Eltern ausgesetzt sind. Bilder über die Eltern sind an anderer Stelle jedoch auch positiv besetzt, wenn zur Erzählung keine weitere Person hinzukommt. Die Bilder und Eindrücke über sogenannte Menschen mit Migrationshintergrund fassen die Befragten im weiteren Verlauf mit einem Allgemeinbild über die „Losergemeinschaft“ und „das Familiengefängnis“ zusammen.

Wie bereits von Kühn (2013) festgestellt heben die Befragten, die mit den eigenen Werten identifizierbaren Werte positiv hervor. Die Konstruktion und (Re-)Produktion der Bilder erfolgt hierbei durch unterschiedliche Widersprüche bzw. verdrehte Definitionen, die laut Winker und Degele (2009) einen verstärkten Rückgriff auf traditionelle und/ oder neuartige Differenzierungslinien zur Folge haben (vgl. Winker & Degele, 2009, S.60). Zwar greifen die Befragten in ihren Beschreibungen auf vorherrschende Bilder über die
unterdrückten Frauen und die aggressiven Jugendlichen zurück, die Bilder über die Jugendlichen gestalten sich jedoch je nach Situation, historischem Kontext, Einbindung einer weiteren Person und eigenem Identifikationsmotiv unterschiedlich.