Postkoloniale Subjektivitäten – Ethnizität, Entwicklung und Eliten im Kontext formeller Bildung in Benin

Autor: Knabner, Sophie
Jahr: 2017

Masterarbeit, Fachbereich Ethnologie, 100 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

Die Masterarbeit widmet sich der Frage, wie das Menschenrecht auf Bildung in Benin verhandelt wird. Der Kontext sind die Fulbe, eine Bevölkerungsgruppe, die aufgrund ethnischer Diskriminierung historisch keinen Zugang zu Bildung hat und von der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung Benins weitgehend abgekoppelt ist. Die Daten für die Arbeit wurden in einer zweimonatigen Feldforschung erhoben. Während dieser habe ich Studierende mit jenem ethnischen Hintergrund in ihrem politischen Kampf um Bildung und Selbstbestimmung begleitet. Neben einer Vielzahl biographischer Interviews, die die individuellen Bildungswege nachzeichnen, habe ich die politische Arbeit von Organisationen der Studierenden im Spannungsfeld von nationalem Wahlkampf und Entwicklungszusammenarbeit dokumentiert.

Zwar stellt die ethnische Gruppe der Fulbe die größte Bevölkerungsgruppe Afrikas dar, jedoch sind sie in Benin eine Minderheit. Ihre Marginalisierung in der Gesellschaft Benins geht auf die französische Kolonialherrschaft (1805-1960) zurück. Politik und anthropologische Wissenschaft haben während der Kolonialzeit die Fulbe vom Rest der Bevölkerung separiert und ihnen das Stigma fremder Nomaden aufgesetzt, die abseits von Infrastruktur, Staat und Entwicklung in den Weiten der Savanne verharren. Mit dem Ende der kolonialen Ära und dem Beginn entwicklungspolitischer Zusammenarbeit zwischen Benin und dem Norden verfestigte sich dieses Stereotyp weiterhin. Die Fulbe wurden als untätig und unwillig sich zu integrieren und sich „zu entwickeln“ erachtet. Dies wird besonders in Bezug auf Bildung deutlich: Sie gelten aus Sicht anderer Bevölkerungsgruppen, der Entwicklungszusammenarbeit sowie selbst ihrer eigenen kleinen Elite als nicht an Bildung interessiert und daher nicht in Schule und Universität vertreten. Gleichzeitig stehen auch Bildungsinstitutionen in Benin im Erbe der Kolonialzeit: Die Schule diente bis 1960 der Verfestigung kolonialer Herrschaft und sollte die Kolonisierten an französische Wissensinhalte und Verhalten angleichen. Somit wurde eine kleine untergeordnete afrikanische Elite geschaffen, die das Kolonialsystem stützte. Die Schullaufbahn in Benin entspricht bis heute dem französischen Modell. Aktuell ist der gesamte Bildungsapparat in Benin von UNECSO sowie den USA finanziert und implementiert.

Der Einfluss kolonialer Vergangenheit auf die heutige Situation macht eine postkoloniale Perspektive als Analyserahmen essentiell. Eine solche schließt diverse Lücken in Wissenschaft und Entwicklungspolitik. Dies ist die erste wissenschaftliche Arbeit, welche die ethnische Stigmatisierung der Fulbe in einem globalhistorischen Zusammenhang betrachtet. Während andere Studien sie als genuin ‚anders’ darstellen, wird die Stellung und Repräsentation der Fulbe in der vorliegenden Arbeit als Ergebnis von ‚entangled histories’, das heißt den Verflechtungen zwischen Afrika und Europa, verstanden. Diese relationale Perspektive ist ebenso aus entwicklungspolitischer Perspektive überfällig. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die Studierenden und wie sie mit den kolonial geprägten Zuschreibungen über ihre Bevölkerungsgruppe innerhalb ihrer eigenen Biographien, ihren Zukunftsvorstellungen sowie in ihrer politischen Arbeit für Bildung und politische Mitsprache umgehen. Die Betrachtung der Daten teilt sich in die Biographien der Studierenden und deren politischen Organisationen. Die Biographien werden anhand wiederkehrender Motive analysiert. Der eigene Wille und das eigene Handeln werden von den Studierenden als ausschlaggebend für Bildungsentscheidungen beschrieben. Durch den Schulbesuch erfuhren viele von ihnen Differenz, Entfremdung und Ausgrenzung gegenüber ihrem sozialen und familiären Umfeld. Diese Erfahrungen abstrahieren sie und schreiben ihren Biographien politische Relevanz zu, indem sie sich als wegweisend für kommende Generationen verstehen. Der Kontakt zur Familie konfrontiert sie mit divergenten Rollenerwartungen: Ethnische Identität und Schule werden als unvereinbar gesehen. Oftmals wird den Studierenden ihre Zugehörigkeit zu Zuhause abgesprochen. Die Betroffenen kritisieren dies und definieren starre Konzepte ethnischer Zugehörigkeit auf eine neue und dynamische Weise. Auch unterscheiden sich ihre Vorstellungen von Bildung und Erfolg von jenen der Elterngeneration: Letztere sehen Bildung vor allem als Mittel für Wohlstand und Prestige an, was auf die kolonialen Schulstrukturen zurückzuführen ist. Sie zeichnen einen Dualismus von reichen Schulgängern in der Stadt und armen Rinderzüchtern auf dem Land, welcher die Unvereinbarkeit von ethnischer Identität und Modernisierung widerspiegelt. Für die Studierenden jedoch stehen persönliche Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit weit vor wirtschaftlichem Aufstieg. In ihren Biographien und Bildungsentscheidungen brechen die Studierenden mit den kolonialen Kategorien.

Während der koloniale Diskurs einen Dualismus zwischen Indigen (Ethnizität und Fulbe) und Modern (Bildung und Entwicklung) festschreibt, unterwerfen sich die Studierenden nicht diesen sich ausschließenden Zuschreibungen. Sie definieren sowohl Ethnizität als auch Bildung neu. Der zweite Teil widmet sich der Arbeit und Selbstpräsentation der politischen Organisationen der Studierenden. Diese kämpfen gegen ethnische Stigmatisierung und für mehr politische und wirtschaftliche Teilhabe, was mit dem oft unbestimmten Begriff „Entwicklung“ beschrieben wird. Sie sensibilisieren die Bevölkerung durch Bildungskampagnen, plädieren für die Modernisierung der Viehzucht und gegen kulturelle Praktiken wie Polygamie, dokumentieren Schulabbrüche und unterstützen Schüler_innen, Studierende und deren Familien finanziell sowie beratend in Not- und Konfliktfällen. Die Positionierung der Studierenden gegenüber ihrer Zielgruppe und ihre Botschaft wird durch ein Narrativ von „Entwicklung“ bestimmt: Zum einen wird die gemeinsame kulturelle Identität und Erfahrung von Diskriminierung als gemeinschaftsbildend beschworen. Zum anderen werden das Fernbleiben von der Schule und die ausbleibende Modernisierung auf die „Kultur der Fulbe“ zurückgeführt. Die eigene Identität als Fulbe wird damit zugleich inszeniert und verteufelt. Gegenüber der Bevölkerung nehmen die Studierenden oft eine aufklärerisch-paternalistische Rolle ein. Ähnlich dem kolonialen Diskurs schreiben sie der Bevölkerung zu, irrational, rückständig und passiv zu sein. Damit bedienen sie die eurozentrischen und kolonial konnotierten Konzepte von Bildung, die sie in ihren eigenen Biographien kritisieren und nicht miteinander vereinbaren wollen bzw. können. Das Paradigma von „Entwicklung“, das hier ausgehöhlt und inflationär benutzt wird, stellt strukturellen Ausschluss und Diskriminierung der Fulbe als jenseits von historisch-politischen Entwicklungen dar. Damit werden koloniale Zuschreibungen und Strukturen reproduziert.

Abschließend wird untersucht, wie ethnische Zughörigkeit von den Studierenden abhängig von Situation und Gegenüber definiert und bewertet wird: Während Ethnizität in einem Moment als essentiell definiert wird, ist sie im nächsten völlig bedeutungslos. Wie auch in der Schaffung des Selbst und der eigenen Zukunft in den Biographien werden hier koloniales Wissen und Kategorisierung dekonstruiert und neue Identifikationen möglich. Die Studierenden kritisieren und unterlaufen damit koloniale Zuschreibungen und Diskurse auf vielfältige Weise, reproduzieren diese aber wiederum in der politischen Arbeit. Bildung und Entwicklung sowie Ethnizität und Fulbe-Sein werden in ihrer bis heute vorherrschenden kolonialen Repräsentation durch die Studierenden aufgebrochen und gleichzeitig wiederholt. Die Arbeit steht in engem Zusammenhang mit den Themen der Sustainable Development Goals (SDGs). Mit deren Verabschiedung 2015 wurde nachhaltige Entwicklung erstmals als Auftrag aller Staaten festgelegt. Zum ersten Mal in der Geschichte werden auf globalpolitischer Ebene ungleiche Machtverhältnisse zwischen Nord und Süd thematisiert, indem eine nachhaltige Entwicklung nicht allein als Ziel und Verantwortlichkeit der sogenannten Entwicklungsländer verstanden wird. Während die Millennium Development Goals im Jahr 2000 Grundschulausbildung für alle Kinder vorsahen, ist Bildung unter der Agenda 2030 universell und menschenrechtlich verankert. Das vierte Ziel der SDGs ist die Gewährleistung inklusiver, gerechter und hochwertiger Bildung und die Förderung des lebenslangen Lernens für alle. Folglich ist eine wissenschaftliche Arbeit, die den politischen Kampf einer stark marginalisierten Minderheit auf das Menschenrecht auf Bildung, politische Selbstbestimmung und nachhaltige Entwicklung aus einer Perspektive analysiert, die Verflechtungen und Machtverhältnisse zwischen Nord und Süd in den Mittelpunkt stellt, hoch aktuell.

Diese Masterarbeit zeigt, wie Entwicklungspolitik und -zusammenarbeit seit 1945 das Konzept von und den Wunsch nach „Entwicklung“ teilweise verselbstständigt und Nord und Süd weiter auseinandergetrieben haben. Die Agenda 2030 ist deshalb ein großer Fortschritt, weil sie den Beginn einer gemeinsamen Verhandlung von Nord und Süd bedeutet, was dazu beitragen kann, diese Kluft zu überwinden und die Teilhabe aller Menschen nachhaltig zu gestalten. Leben und politische Kämpfe der Studierenden in Benin zeigen, dass das Menschenrecht auf Bildung für alle nur dann erreicht werden kann, wenn das Ziel globaler, nachhaltiger Entwicklung die historisch gewachsenen Machtverhältnisse zwischen Nord und Süd in den Blick nimmt und koloniale Strukturen benennt, aufarbeitet und bekämpft.