Racialized identities – die Rolle der haitianischstämmigen Bevölkerungsminderheit für nationale Identitätskonzepte in der Dominikanischen Republik

Autor: Strößenreuther, Franka Katharina
Jahr: 2016

Masterarbeit, Fachbereich Politikwissenschaft, 113 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

Weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit vollzieht sich der seit Jahrzehnten schwelende Migrationskonflikt zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik. Schon längst werden die Diskrepanzen nicht mehr nur auf staatsrechtlich-juristischer Ebene im Zuge der Migrationsgesetzgebung und des Staatsbürgerrechts ausgetragen. Gewaltsame Ausschreitungen im Grenzgebiet beider Länder überschatten die bilateralen Beziehungen inzwischen zunehmend. Beflügelt durch die seit Jahren stattfindenden Deportationen illegaler haitianischer Migranten kommt es immer wieder zu gegenseitigen gewalttätigen Übergriffen zwischen Haitianern und dem dominikanischen Militär. Seit Jahren konstatiert das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung eine zunehmend eskalierende Gewaltintensität in diesem Konflikt. Somit trügt der Schein einer tropischen Karibikidylle über die tatsächlichen Spannungen auf der Insel Hispaniola hinweg.

Der international bekannt gewordene Fall der Julia Deguis Pierre war maßgeblicher Auslöser für die sich aktuell zuspitzende Krise. 2013 klagte die haitianischstämmige Deguis gegen die diskriminierende Nichtausstellung ihr zustehender offizieller dominikanischer Papiere. Neben der nicht stattgegebenen Klage erwies sich die weitere Entscheidung des dominikanischen Verfassungsgerichts als folgenschwer: Sämtliche(!) seit 1929 im Melderegister erfassten Ausländer und deren bis 2007 in der Dominikanischen Republik geborene Nachkommen wurden zu einer Neuregistrierung zwecks Überprüfung ihrer Aufenthaltsberechtigung verpflichtet. Das als TC168 bekannt gewordene Urteil erschütterte Staatsrechtler und Menschenrechtler weltweit: Mit dem neuartigen Reglement wurden Tür und Tor für die rückwirkende Aberkennung der dominikanischen Staatsbürgerschaft tausender haitianischstämmiger Personen geöffnet.

Die Ursprünge der haitianisch-dominikanischen Differenzen sind jedoch keineswegs eine neue Entwicklung, sondern reichen bis weit in die Kolonialzeit zurück. Nach der Entdeckung durch Kolumbus im Jahre 1492 entwickelten sich der östliche und westliche Inselteil gänzlich unterschiedlich. Unter französischer Kolonialherrschaft florierte im heutigen Haiti eine sklavenbasierte Plantagenwirtschaft wohingegen der spanischsprachige Osten nahezu in der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit versank. Erst ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert vollzog sich in der Dominikanischen Republik ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Mit der explosionsartigen Verbreitung des Zuckerrohranbaus ging ein massiver Arbeitskräftemangel einher. In zwielichtigen Geschäften zwischen dem haitianische Diktator Duvalier und dem dominikanischen Diktator Trujillo wurden afrikanischstämmige Haitianer als billige Lohnarbeiter gehandelt. Der dadurch begründete massive Zustrom von Haitianern in die Dominikanische Republik legte den Grundstein für die heutige Migrationsproblematik auf Hispaniola.

Der Einfluss von Migrationsprozessen auf kollektive Identitäten wird in den Sozialwissenschaften kontrovers diskutiert. Das vom britischen Soziologen Anthony D. Smith entwickelte Paradigma des Historischen Ethnosymbolismus geht davon aus, dass Migrationsbewegungen die nationale Selbstwahrnehmung grundlegend beeinflussen können. Die subjektiv-interpretative Auslegung sozialer, kultureller und historischer Deutungsmuster dient dabei als Basis für differenzierende Identifikationsschemata. Auf Grundlage dieses multidimensionalen Verständnisses wird in der Masterarbeit untersucht, welche Rolle die haitianischstämmige Minderheit für das Identitätskonzept in der Dominikanischen Republik spielt. In die wissenschaftliche Analyse wurde in besonderem Maße die bereits angesprochene historische Langzeitbetrachtung der Karibikinsel einbezogen, um ein umfassendes Bild des dominikanischen Identitätsverständnisses zeichnen zu können. Erst unter Berücksichtigung der Kolonialgeschichte, der ökonomischen und demographischen Entwicklung sowie der aktuellen Gesetzgebung im Bereich Migration und Staatsbürgerschaft können die empirischen Ergebnisse folgerichtig interpretiert werden.

Ausgehend von den forschungsleitenden Thesen, dass sich anti-haitianische Tendenzen in der aktuellen dominikanischen Politik manifestieren und nach außen vermittelt werden, wurden öffentliche Reden und Ansprachen der dominikanischen Führungsriege in einem Zeitraum von vier Jahren (2012-2016) untersucht. Die qualitative Inhaltsanalyse zielte darauf ab, die konstruktivistisch-differenzierenden Identifikationskategorien in der Dominikanischen Republik sichtbar zu machen und in Bezug zur haitianischstämmigen Bevölkerung zu stellen.

Die Analyse ergab ein systemisches Gesamtgefüge von acht Kategorien sowie einer Unterkategorie, welche das dominikanische Identitätsverständnis maßgeblich prägen. Territorialität, nationale Kollektivität und Wertemuster spielen dabei ebenso eine Rolle wie historische Unabhängigkeits- und ethno-kulturelle Abstammungsmythen. Die Differenzierung zu Haiti unter Ausblendung offensichtlicher Analogien manifestierte sich als besonders einprägsame Identifikationskategorie. Verdichtend lässt sich die dominikanische Identität als konstruktivistische kultur-historische Homogenisierung gepaart mit anti-haitianischer Kontrastivität beschreiben. Vor dem theoretischen Hintergrund des Historischen Ethnosymbolismus fungiert die haitianische Bevölkerungsminderheit in der Dominikanischen Republik als Katalysator einer subjektiven nationalen Homogenität und verstärkt so differenzierende und exkludierende Identifikationsmuster. Die sozial-konstituierte Identitätskategorisierung kann deshalb als racialized identity beschrieben werden.

Das Streben nach einer „Europäisierung“ der nationalen Identität sowie der illusorische Wunsch einer möglichst „weißen“ Bevölkerung ist kennzeichnend für das Identitätsempfinden in der Dominikanischen Republik. Besonders während der Trujillo-Diktatur genoss dieses sog. blanqueamiento politische Priorität: Umfassende Siedlungsprogramme für europäische Einwanderer oder jüdische Flüchtlinge während des Nazi-Regimes in Deutschland, aber auch staatlich forcierte Massaker zur Auslöschung afrikanischstämmiger Haitianer auf dominikanischem Territorium zeugen davon. Diese politisch forcierte Verzerrung der dominikanischen Nation als haitianischer Antagonismus manifestiert sich in einem dogmatischen Identitätsverständnis, zu dessen Aufrechterhaltung die Regierung maßgeblich beiträgt.

Die Masterarbeit veranschaulicht Strukturen und Erklärungsmuster der dominikanischen Identität, die maßgeblich auf anti-haitianischen Idealen fußt. Zudem wird gezeigt, welche essenzielle Rolle machtpolitischen Strukturen bei der Etablierung der negrophoben und europhilen Selbstwahrnehmung in der Dominikanischen Republik zukommt. Die Rückbesinnung auf die präkoloniale Taíno-Kultur könnte wichtige Impulse für eine Neuausrichtung der verkrusteten dominikanischen Selbstverortung setzen. Der Einfluss der politischen Führungselite wird jedoch entscheidend sein, um in der Zukunft eine nachhaltige Verschiebung des dominikanischen Identitätsverständnisses zu erreichen.