‚Refugee‘ und ‚Supporter‘ als Subjekte der antirassistischen Selbstorganisation. Positionen der Gemeinsamkeit und der Differenz bei No Lager Osnabrück

Autor: Engelmeier, Lukas
Jahr: 2016

Masterarbeit, Fachbereich Internationale Migration und internationale Beziehungen, 120 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

Der erfolgreiche Protest von Refugees und Supportern (wie es im Sprachgebrauch von No Lager Osnabrück heißt) gegen Abschiebungen in Osnabrück zwischen 2014 und 2015 hat einiges an Aufmerksamkeit auf sich gezogen. In dieser Zeit wurden durch wiederholten, organisierten zivilen Widerstand 36 Abschiebungen durch die Körper der Protestierenden blockiert. Politisches Subjekt, Organisator dieses Protests war die antirassistische Initiative No Lager Osnabrück, in der sich Refugees und zumeist deutsche Supporter zusammenfinden und gemeinsam agieren.

Diese gemeinsame Organisation innerhalb einer politischen Initiative ist der Ausgangspunkt meiner Masterarbeit. Es geht um die mikropolitische Organisation von Solidarität und ihre Bruchlinien bzw. Problematiken. Denn trotz der erfolgreichen Abschiebeproteste und dem Wunsch nach gleichberechtigter, basisdemokratischer Organisation ist No Lager Osnabrück nicht frei von ungleichen Machtverhältnissen. So ist z.B. die Kommunikation innerhalb der Gruppe gekennzeichnet von Sprach- und Wissensbarrieren. Nicht alle Mitglieder sprechen gleichermaßen gut Englisch, die Verkehrssprache bei No Lager. Der unterschiedliche Zugang zu Ressourcen wie Wissen, deutschsprachige Informationen zu Gesetzen, Medien oder Netzwerken, stellt ein weiteres Problem dar, das zu unterschiedlichen Möglichkeiten der Teilhabe führt. Von besonderer Bedeutung sind weiterhin die Unterschiede juristischer Art. Ein Teil der Gruppe ist unmittelbar von der Asyl- und Migrationspolitik betroffen. Gemeint ist die unterschiedliche Prekarität des Aufenthaltsstatus unter den Refugees gegenüber der Sicherheit durch Staatsbürgerrechte auf Seiten der Supporters. Diese Unterschiede führen dazu, dass innerhalb der Gruppe eine Trennung entlang der Kategorien Refugee/Supporter relevant wird. Während Unterscheidungen zunächst als konstitutiv für die kognitive Erschließung der Welt erachtet werden, etablieren sie allerdings „Differenzordnungen [, diese] strukturieren und konstituieren Erfahrungen, sie normieren und subjektivieren, rufen, historisch aufklärbar, Individuen als Subjekte an“ (Mecheril und Melter 2012, S. 265).

Dieser Prozess der Konstitution des Subjekts ist theoretischer Ausgangspunkt für diese Arbeit. Das Subjekt wird hier zum einen verstanden als Akteur seiner selbst, zum anderen als von den gesellschaftlichen Umständen bedingt. Allerdings leitet nicht das Subjekt im umfassenden Sinn den theoretischen Rahmen dieser Arbeit an, sondern die Prozesse der Subjektivation und der Subjektivierung. Subjektivation meint dabei jenen Prozess der Genese von Subjektpositionen. Diese „sind kulturelle Typisierungen, Anforderungskataloge und zugleich Muster des Erstrebenswerten“ (Reckwitz 2008, S. 140). Es handelt sich um abstrakte Figuren, die nicht mit der Einzelperson identisch sind. Die Subjektivierung ist davon als jener Prozess zu unterscheiden, der die Auseinandersetzung des Einzelnen mit den diskursiven Anrufungen in Subjektpositionen bezeichnet. So argumentiert Keller (2012), dass es epistemisch erforderlich ist, zwischen „mögliche[n] [...] Subjektposition[en] auf der Oberfläche der Diskurse (S.102)“ und den „tatsächlichen Subjektivierungen oder Subjektivierungsweisen […]“ (Keller 2012, S. 92) zu unterscheiden. Auf dieser Grundlage wird die Frage nach den Möglichkeiten und den Grenzen von Solidarität und Gleichberechtigung in der mikropolitischen Praxis von No Lager Osnabrück gestellt. Die forschungsleitende Frage lautet dementsprechend: Wie lässt sich der Prozess der Differenzierung von Fremd- und Selbstpositionen als Anrufung der Subjektpositionen und Ort der Subjektivierung von Refugees und Supporters bei No Lager Osnabrück beschreiben?

Als Erhebungsmethode wurden sechse narrative Interviews mit je drei als ‚Supporter‘ und als ‚Refugee‘ bezeichneten Gruppenmitgliedern geführt. Zur Auswertung des transkribierten und codierten Interviewmaterials wurde anschließend ein mixed-method Ansatz aus Methoden der Biografieforschung sowie der Diskursforschung gewählt, da es kein eigenständiges Instrumentarium zur Analyse des Subjekts gibt. Zum einen wurden mit der Positionierungsanalyse jene Sprachakte untersucht, in denen Selbst- und Fremdpositionierungen erstellt und zugewiesen werden. Ergänzt und kritisiert mit der diskurstheoretischen Figurationsanalyse, wurde die Position des biografisch Erzählenden dezentriert. Die analytische Aufmerksamkeit richtet sich so auf die Verwobenheit und komplexe Beziehung zwischen Erzähltem und Diskursen/Dispositiven.

Der Prozess der differenzierenden Selbst- und Fremdpositionierung bei No Lager Osnabrück lässt sich als vielschichtiger Prozess beschreiben. Zunächst lässt sich die Subjektposition des ‚German Supporters‘ identifizieren, die häufig als stillschweigende Norm, als natürliche Position des Sprechens und Handelns in der Gruppe und als aktive Instanz im Plenum angerufen wird. Demgegenüber steht die Subjektposition des ‚(just) Refugee‘, eine diskursive Figur der Passivität und der mangelnden Handlung(sfähigkeit). Dieser Subjektposition werden Schwierigkeiten bei der Kommunikation in der Gruppensprache Englisch sowie ein kulturelles Schamgefühl und Mangel an einem Gefühl der Zugehörigkeit zugeschrieben, die die benannte Passivität zu erklären versuchen. Dieser Diskurs kennt allerdings auch Durchquerungen und Brüche: beim Thema Abschiebeverhinderungen wird der zunächst als passiv angerufenen Position des Refugees größere Kompetenz und Aktivität zugeschrieben. Zwischen diesen beiden Subjektpositionen wurde schließlich noch die Figur des ‚Supporter Refugee‘ angerufen. Diese Position ähnelt der eines ‚German Supporter‘, ohne mit dieser identisch zu sein, da das Verlassen der Refugee-Position unaussprechbar bleibt. Verortet als Refugee, wird einerseits artikuliert, dass in dieser Position Bedürftigkeit nach wichtigen Informationen besteht, die durch Supporter weitergeben werden, andererseits unterscheidet sie sich von der Position des Refugees durch gesteigerte Aktivität in Form von wissensintensiven Tätigkeiten.

Wird die Perspektive in den Interviews auf die ganze Gruppe gerichtet, so wird diese nach außen als einheitliche Gruppe repräsentiert. Die zuvor in der Binnendifferenzierung der Gruppe genutzten Argumente verkehren sich nun in ihr Gegenteil. Sprachbarrieren werden nun anderen Gruppen zugeschrieben, und No Lager wird, in Abgrenzung zu diesen, zum Ort vielsprachiger Verständigung. So wird der Bezug auf die eigene Teilhabe bei No Lager zu einer Selbstwirkskamkeitserfahrung und die Subjektposition des No Lager Mitglieds positiv verortet. Diese differenzierenden, diskursiven Bewegungen, in denen die Position der*des Anderen als weniger aktiv, sprachgewandt oder tätig im Gegensatz zur komplementären aktiven, sprachgewandten und tätigen eigenen Position artikuliert wird, wird hier mit dem Theorem des konstitutiven Außen (Derrida 1988) nachvollzogen. Dies lässt sich insbesondere mit der diskursiven Figur des passiven ‚(just) Refugees‘ beobachten. Erst durch die Abgrenzung von dieser wird die je komplementäre Selbstpositionierung als aktiver ‚Supporter(-Refugee)‘ denkbar und sagbar.

Im Prozess der individuellen, selbst- und fremdbezüglichen Auseinandersetzung mit den nachvollzogenen Subjektpositionen, der Subjektivierung, lässt sich nachzeichnen, wie der Einbezug der als passiv beschriebenen Subjektposition des Refugees zur zentralen Aufgabe der diskursiven Wir-Gruppe wird. Die als passiv beschriebenen Refugees werden Objekt der Sorge im Diskurs von No Lager. Die zunächst vermeintlich sekundäre Position des passiven Refugees wird so ins Zentrum des Interesses gerückt. Die einbeziehenden Anstrengungen richten sich auf eben jene Refugees und der Einbezug selbst wird zu einem zentralen politischen Ziel.

Die hier als Refugees interviewten No Lager-Mitglieder beschreiben daher eine Ambivalenz bei der Selbstverortung in der Gruppe: Zum einen als Refugees potentiell vom einbeziehenden Diskurs der Gruppe adressiert, zum anderen in der diskursiven Position selbst Teil der Wir-Gruppe No Lagers zu sein. Auf der einen Seite steht die Position des Refugees, der qua Refugee-Sein nicht Supporter sein kann. Auf der anderen Seite befindet sich die Position des Supporters, der, obschon immer noch Refugee, durch Handlungen des Unterstützens eben zum Unterstützenden, zum Supporter Refugee, wird.

Der Nachvollzug des Umgangs mit den Anforderungen an die verschiedenen Subjektpositionen, der sich häufig in Form von ambivalenter Selbstverortung zeigt, kann Ausgangspunkt sein sowohl für weitere Forschungsvorhaben als auch für die Praxis in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Dort wo die Gleichberechtigung und -befähigung der Akteure des Handelns explizites Ziel ist, stellt sich ausgehend von meiner Masterarbeit die Frage, wie mit gegebenen und gemachten Differenz-, Hierarchie- und Machtverhältnissen umgegangen werden kann und welche Probleme sich dabei ergeben?

Literatur
Derrida, Jacques (1988): Grammatologie. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 417).
Keller, Reiner (2012): Der menschliche Faktor. Über Akteur(inn)en, Sprecher(inn)en, Subjektpositionen, Subjektivierungsweisen in der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. In: Reiner Keller (Hg.): Diskurs, Macht, Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss. (Interdisziplinäre Diskursforschung), S. 69–107.
Mecheril, Paul; Melter, Claus (2012): Gegebene und hergestellte Unterschiede – Rekonstruktion und Konstruktion von Differenz durch (qualitative) Forschung. In: Elke Schimpf und Johannes Stehr (Hg.): Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 263–274.
Reckwitz, Andreas (2008): Subjekt. Bielefeld: Transcript-Verl. (Einsichten).