Solizentrum Lübeck. Eine Fallstudie über Widerstand und Solidarität in der Unterstützung von Migration

Autor: Bach, Miriam; Preuss, John-Martin
Jahr: 2017

Masterarbeit, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie, 178 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

Unsere gemeinsam verfasste Masterarbeit ist eine Abhandlung über das soziale, kulturelle und politische Solizentrum in Lübeck. Dieses entstand im Kontext des „langen Sommers der Migration“ 2015 und versteht sich als Teil einer solidarischen, die Flucht*Migration unterstützenden Bewegung. Angefangen vornehmlich mit der direkten Unterstützung des Transits von Lübeck nach Skandinavien, wandelt sich das Solizentrum seit der Restabilisierung des Europäischen Migrations- und Grenzregimes im Winter 2015/2016 zu einem Freiraum, in dem sich Menschen mit und ohne Flucht*Migrationserfahrungen treffen und auf vielfältigste Weise für das Recht auf Bewegungsfreiheit einsetzen sowie das gemeinsame Ankommen und Miteinander leben.

2015 nahmen die Migrationsbewegungen nach Europa mit mehr als einer Million Menschen eine vorher nicht gekannte Dimension an. Sie brachten die Grundprinzipien der Politiken und Praktiken, die die Zuwanderungen nach EUropa ordnen und beschränken sollen, vorübergehend zum Kollabieren. Um die Migration und das Ankommen zu unterstützen, entwickelten sich diverse Projekte, Initiativen, Strukturen – von einer „Willkommenskultur“ war die Rede. Das Solizentrum als eine Unterstützungsstruktur spezifiziert sich hierin ebenso durch seine Grenznähe wie durch seine offen vertretene, politisch-solidarische Haltung gegenüber den Bewegungen der Flucht*Migration. Diese Struktur wollten wir untersuchen und fragten uns: Wie lässt sich das Phänomen Solizentrum in Lübeck erklären – wie konnte es entstehen, was macht es aus und welche Bedeutung hat es? Konkret knüpften wir in der Masterarbeit an theoretische Annahmen der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung an und analysierten die im und um das Solizentrum herum sichtbaren und verdichteten, miteinander wirkenden, aber auch ringenden Praktiken in den „Kämpfen um [...] Migration“ (Ataç et al. 2015: 11). Indem wir uns dabei zum einen durch die theoretischen Konzepte Widerstand und Herrschaft – mit denen wir im Anschluss an die Machtanalytik Michel Foucaults Widerstand kurz als Versuch definieren, gegenüber einer wie auch immer materialisierten Herrschaft den Rahmen der Freiheit und damit der möglichen Handlungen der Subjekte zu vergrößern – und zum anderen durch die theoretischen und praktischen Diskussionen um Solidarität leiten ließen, setzten wir uns mit den widerständigen Praktiken und Qualitäten des Zentrums, seinen externen Herausforderungen, internen Herrschaftstendenzen und Konflikten, dem Umgang damit und mit der Rolle der Solidarität dabei auseinander.

Im begrenzten Rahmen unserer Ressourcen und jener der Aktiven des Solizentrums versuchten wir bei der methodischen Umsetzung unserer qualitativen sozialwissenschaftlichen Fallstudie Ideen und Ansätze partizipativer und/oder aktivistischer Forschung zu berücksichtigen. Diskussionen um Möglichkeiten und Grenzen dieser Ansätze reflektierend, verbindet unsere Analyse die Erfahrungen eines zweiwöchigen beobachtend-teilnehmenden Feldaufenthaltes mit den Ergebnissen einer Dokumentenanalyse sowie der Auswertung von 25 leitfadengestützten episodischen und problemzentrierten Paar-, Einzel- und Gruppeninterviews mit 36 Aktiven. Letztere steht im Zentrum des Analyseteils (Kapitel 4), das die Forschungsergebnisse eines an der von Barney Glaser und Anselm Strauss entwickelten Grounded Theory orientierten Kodierungs- und Systematisierungsprozesses vorstellt.

Unserer Analyse folgend entstand das Solizentrum nicht spontan, sondern wurde vielmehr von diversen bereits bestehenden Strukturen, den darin involvierten Akteur*innen und ihren Praktiken bedingt und eröffnete seinerseits Räume für „Neues“. So erwuchs es nicht zuletzt aus den (autonomen) Migrationsbewegungen im Jahr 2015 und den vielfältigen (organisierten) Widerstandserfahrungen von Lübecker Unterstützer*innen und Geflüchteten. Als besondere Bedingung der Praktiken im und um das Solizentrum herum erarbeiteten wir aus den Erzählungen außerdem dessen kollektiven (links)politischen, widerständigen Anspruch, bzw. das Ringen um diesen. Mit Michel Foucault betrachten wir das Solizentrum ferner als „Widerstandsknoten“ (Foucault 2014 [1976]: 96). In diesem Knoten verbinden sich lokal und historisch diverse Formen von Versuchen, die Freiheit von Subjekten zu vergrößern. Sie reichen von eher praktischen, nicht in erster Linie politisch formulierten Versuchen, wie dem Bereitstellen von kostenfreiem Essen, über die
Organisation von Fährtickets sowie dem eigentlichen Grenzübertritt bis zum explizit politisch kommunizierten Erstreiten und „Inbetriebnehmen“ städtischer Gebäude und Demonstrationen.
Dabei sind alle von uns beobachteten Widerstände kollektive Praktiken des füreinander Eintretens, die wir auch als Praktiken der Unterstützung und Praktiken der Zusammenarbeit kategorisiert haben. Somit sind die Praktiken des Solizentrums in ihrer Vielfältigkeit für uns solidarische Widerstände. Solidarität ermöglicht und verbindet die widerständigen Subjekte ebenso wie die verschiedenen Widerstandsformen im Solizentrum.
Mittlerweile wird das Solizentrum von den Aktiven und Besucher*innen vor allem als ein Freiraum wahrgenommen, in dem einerseits Ideen umgesetzt und Projekte angestoßen werden und sich insbesondere Geflüchtete diesen Raum aneignen können. Andererseits impliziert dieser Raum, dass sich Menschen dort wohl, willkommen und geschützt fühlen; häufig wurde das Solizentrum als „zweites Zuhause“ beschrieben.

Unsere Analyse der (Rück)Wirkungen des Solizentrums zeigt insgesamt zwei Stränge auf. Erstens spiegelt sich in den Interviews wider, dass die Widerstände im Solizentrum tatsächlich die Freiheit vieler Subjekte – nicht ausschließlich der Geflüchteten – vergrößern. Zweitens erwirkt das Solizentrum als Widerstandsknoten, der diverse Praktiken und Akteur*innen verbindet, eine Politisierung, mithin eine Sensibilisierung bei einzelnen Aktiven und in der Stadtgesellschaft Lübecks für die Notwendigkeit, Freiheiten zu vergrößern, ein Ankommen und Miteinander gemeinsam zu gestalten und dafür einzustehen.
Für uns beschreibt das Solizentrum schließlich einen Ort, oder mit Foucault gedacht einen Knoten des solidarischen Widerstands, dessen politischer Anspruch eine besondere Bedingung darstellt und die Ausübung aller Praktiken durchdringt. Dieser Anspruch hat dabei weniger einen ausschließenden Charakter, sondern birgt durch seine offenen Aushandlungen sowie praktischen Verwirklichungen vielmehr die Chance, einen Beitrag zur Politisierung einzelner und womöglich darüber hinaus zu leisten. Nicht zuletzt dadurch sind an diesem Knotenpunkt die Versuche, den Rahmen der Freiheit zu vergrößern, wirkmächtig und hoffentlich nachhaltig.