Soziale Jugendbewegungen als Lernort des Globalen Lernens?

Autor: Ammon, Adrian
Jahr: 2019

Bachelorarbeit, Fachbereich Bildungswissenschaften, 49 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

Die Jugend von heute werde immer Politik-verdrossener, ist eine gern verlautete Klage der institutionalisierten Politik. Konträr dazu delegitimierten in den vergangenen Jahren viele Politiker*innen die Proteste der sozialen Jugendbewegung „Fridays for Future“. Paradigmatisch dafür kann ein Zitat Christian Lindners gelten: „Das [gemeint ist: der Klimaschutz] ist eine Sache für Profis“(1). Der Tenor ist stets: Erst wenn die Kinder und Jugendlichen ‚etwas gelernt‘ haben, sind sie zur politischen Partizipation qualifiziert.
In kritischer Distanz zu diesem Diskurs fragt die Arbeit, inwieweit soziale Jugendbewegungen als Lernort für das Globale Lernen gelten können. Herausgearbeitet werden dabei themenübergreifende Strukturmerkmale, die soziale Jugendbewegungen jenseits ihrer unterschiedlichen Thematiken und Zielrichtungen im Kontext (globaler) politischer Partizipation charakterisieren.

In einem ersten Teil der vorliegenden Arbeit wird sich der Fragestellung aus der Richtung des Globalen Lernens angenähert.
Das Konzept des Globalen Lernens, verstanden als Konzept zur Vermittlung eines Denkens und Handelns unter den Bedingungen der Globalität, kann mit zwei konträren Paradigmen gefasst werden. Auf der einen Seite steht das evolutions- bzw. systemtheoretische Paradigma, auf der anderen Seite das handlungstheoretische Paradigma. Beide Paradigmen kritisieren die Wirkmächtigkeit des jeweils anderen. Am evolutions- bzw. systemtheoretischen Paradigma wird kritisiert, dass es gesellschaftliche Verhältnisse affirmativ reproduziere. Durch eine Naturalisierung konstituierender Merkmale der Globalisierung entpolitisiere sich das Globale Lernen damit selbst.(2) Dem handlungstheoretischen Paradigma wird dagegen eine moralinsaure Postulativpädagogik vorgeworfen.
Die vorliegende Arbeit versteht eine Reduktion des Globalen Lernens auf eine der zur Diskussion stehenden Paradigmen als unangemessene Reduktion der Komplexität der globalisierten Welt und stellt deshalb die Pädagogik der Unterdrückten nach Paulo Freire als vermittelnde Theorie dem, als im Paradigmenstreit verstandenen, Globalen Lernen zur Seite.

Die macht- und herrschaftskritische Pädagogik Paulo Freires stellt die Bewusstwerdung von Unterdrückungsstrukturen in den Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit. Damit kann sie als emanzipatorisch, im Sinne einer Kritik an bestehenden Globalisierungsstrukturen gelten, jedoch durch ihre dezidierte Subjektperspektive, ohne moralinsauer zu werden. Durch ihren Blick auf Gesellschaft-konstituierende Strukturen ermöglicht die Pädagogik der Unterdrückten eine Repolitisierung Globalen Lernens und schützt es damit vor einer affirmativen Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse. In einem hohen Maße instruktiv für die vorliegende Arbeit ist darüber hinaus die konzeptuell enge Verknüpfung von Reflexion gesellschaftlicher Unterdrückungsstrukturen und Aktionen zur Befreiung des Individuums aus diesen. Der zweite Teil der vorliegenden Arbeit nähert sich der zentralen Fragestellung aus der Richtung der sozialen Jugendbewegungen. Soziale Bewegungen zeichnen sich durch ein plebizistisches Demokratieverständnis aus. Sie verstehen das Individuum als kompetent zur politischen Urteilsbildung und Handlung. Nach Koltan (2014) zeichnen sich soziale Bewegungen durch „kulturrevolutionäres Handeln“(3) aus. Ziel des Aktivismus sind nicht genuin politische Forderungen, sondern eine „grundlegende gesellschaftliche Veränderung“(4) mit dem Ziel von den etablierten Institutionen gehört zu werden. Sie verstehen gesellschaftliche Strukturen damit als sozial konstruiert und veränderbar.
Zentral für das vorliegende Erkenntnisinteresse ist, welche Besonderheiten sich aus einer jugendlichen Partizipation in sozialen Jugendbewegungen, also für soziale Jugendbewegungen ergeben. Herausgearbeitet wurde, dass die maßgebliche Partizipation von Kindern und/oder Jugendlichen einen Gegensatz zwischen der ‚erwachsenen‘ institutionalisierten Politik und der ‚kindlichen‘ bzw. ‚jugendlichen‘ sozialen Bewegung konstituiert. Ersichtlich wird, dass die institutionalisierte Politik mit ihrem repräsentativen Demokratieverständnis deshalb mitunter adultistisch bzw. elitistisch auf soziale Jugendbewegungen antwortet, die mit einer Delegitimierung der Partizipationsfähigkeit von sozialen Jugendbewegungen einhergeht, wie dies auch in dem eingangs zitierten Satz Christian Lindners erkennbar ist. Im Sinne Freires lässt sich dieser Adultismus bzw. Elitismus als Unterdrückungsstruktur lesen.

Vor diesem Hintergrund kann – so die zentrale Erkenntnis der vorliegenden Arbeit - die Partizipation in sozialen Jugendbewegungen durch ihr plebizistisches Demokratieverständnis und die zwangsläufige Auseinandersetzung von sozialen Jugendbewegungen mit den mitunter adultistischen bzw. elitistischen Reaktionen der institutionalisierten Politik zu einer Repolitisierung Globalen Lernens beitragen. Somit können soziale Jugendbewegungen, unabhängig von ihrem thematischen Schwerpunkt, durch ihre Auseinandersetzung mit Unterdrückung bzw. Befreiung aus dieser, als Lernort des Globalen Lernens gesehen werden, wenn dieses konzeptuell durch Paulo Freires Pädagogik der Unterdrückten erweitert wird.

 

1 Lindner, C. in: Holscher, M. (2019, 10. März). "Eine Sache für Profis". FDP-Chef gegen Schülerdemos fürs Klima, Spiegel. Zugriff am 02.01.2020. Verfügbar unter https://www.spiegel.de/politik/deutschland/christian-lindner-schueler-sollen-in-freizeit-fuer-klimaschutz-demonstrieren-a-1257086.html

2 Dieser Vorgang muss auch im Kontext der neoliberalen Veränderungen der letzten Jahrzehnte gesehen werden, durch welche die politische Dimension des Globalen Lernens zu Gunsten einer individualistischen, kompetenzorientierten Perspektive auf globale Zusammenhänge und das Globale Lernen marginalisiert wurde. In der Folge wird die Konstruiertheit von Macht- und Herrschaftsstrukturen verschleiert und damit naturalisiert und affirmativ reproduziert.

3 Koltan, M., S. 61 (2014). Jugendkultur - Jugendbewegung - Soziale Bewegung. In G. Fiedler, S. Rappe-Weber & D. Siegfried (Hrsg.), Sammeln - erschließen - vernetzen. Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv. Göttingen: V&R unipress.

4 Roth, R. & Rucht, D., S. 297 (2002). Neue Soziale Bewegungen. In M. Greiffenhagen & S. Greiffenhagen (Hrsg.), Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.