Masterarbeit, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften und Gesellschaftswissenschaften und Philosophie, 80 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Migration spielt eine zentrale Rolle im Transformations- und Reformprozess Kubas. Vor allem die engen transnationalen Verflechtungen mit der kubanischen Diaspora in den USA sind von ökonomischer und sozialer Bedeutung. Die finanziellen und materiellen Rücküberweisungen (Remittances) von emigrierten Kubaner_innen tragen zur Verbesserung der ökonomischen Situation vieler Familien und des ganzen Landes bei. Vor allem für Kleinunternehmer_innen (Cuentapropistas) im neu entstandenen Privatsektor, sind Remittances als Investitionsquelle von Bedeutung. Doch welche Bedeutung soziale und kulturelle Transfers wie Normen, Praktiken und Sozialkapital von Migrant_innen in ihre Heimatländer (Social Remittances) haben, wird von den meisten einschlägigen Studien nicht untersucht – weder auf Kuba noch in anderen Kontexten.
Die Masterarbeit knüpft an diese Forschungslücke an und fragt, ob und welche Ideen, Praktiken, Normen und Wissensformen aus dem Ausland für die Cuentapropistas eine Rolle spielen und wie diese im kubanischen Kontext angenommen, abgelehnt oder angepasst werden. Hierfür wird gleichsam eine transnationale und lokale Perspektive eingenommen, die die sozio-kulturelle Bedeutung von Migration für die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen Kubas aus Sicht der Akteur_innen im Privatsektor untersucht. Es wurde eine qualitative, an der Constructivist Grounded Theory orientierte Forschung durchgeführt, um möglichst frei von eurozentristischen Annahmen zu sein. Dafür wurden in Havanna 12 halbstrukturierte Interviews mit kubanischen Kleinunternehmer_innen geführt, die familiäre oder andere Verbindungen ins Ausland haben oder selbst emigriert waren und nach Kuba zurückgekehrt sind.
Den theoretischen Hintergrund der Masterarbeit bildet das Transnationalismus-Paradigma. In der Entwicklungspolitik werden Remittances als Potential für die Entwicklung von Ländern des Globalen Südens gesehen. Jedoch wird in den entsprechenden Forschungen meist implizit angenommen, dass mit diesen automatisch die ‚richtigen‘ Werte gesendet werden, die zu sozialem und politischem Wandel nach Vorbild des ‚westlichen‘ Entwicklungsmodells führen. Vertreter_innen der Transnationalismusforschung plädieren daher für eine Perspektive, die Auswirkungen von Migration nicht als per se positiv oder negativ betrachtet und die Bedeutung von sozialen, kulturellen und symbolischen Verbindungen zwischen den Personen in Ziel- und Herkunftsländern mehr in den Blick nimmt. Mit dem Konzept der Social Remittances sollen nicht-ökonomische Transfers sowie ihre Hinterfragung und Veränderung im lokalen Kontext analytisch greifbar werden.
Das Thema Migration bewegt sich auf Kuba in einem polarisierten Diskurs, der lange von der Rhetorik des Kalten Krieges beeinflusst war. Aufgrund der politischen Verwerfungen mit den USA und der restriktiven kubanischen Migrationspolitik weist Kuba einige Besonderheiten auf und wird deshalb in der Transnationalismusforschung oft als Ausnahmefall behandelt. Jedoch spielen die transnationalen Verbindungen und Praktiken der kubanischen Diaspora seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle für die kubanische Gesellschaft. Insbesondere im wachsenden Privatsektor werden die Verbindungen ins Ausland immer wichtiger, seitdem die kubanische Regierung 2011 einen wirtschaftlichen Reformprozess angestoßen und die Migrationspolitik reformiert hat. Jedoch ziehen diese auch negative soziale Folgen, wie wachsende Ungleichheit mit sich.
Der politisierte Kontext wurde auch in den Ergebnissen der Masterarbeit deutlich. Die Bedeutung von Social Remittances ist für die interviewten Cuentapropistas von starker Ambivalenz gekennzeichnet und wird durch spezifische lokale Bedingungen geformt: Da Migration im politischen Diskurs lange als Vaterlandsverrat gesehen wurde, haben kubanische Emigrant_innen als Träger_innen von Social Remittances wenig Legitimation auf Kuba. Außerdem werden ausländische Einflüsse generell kritisch und als wenig relevant betrachtet, einerseits aufgrund des kubanischen Patriotismus und andererseits, weil das politische und wirtschaftliche System Kubas als gegensätzlich zum Ausland wahrgenommen wird. Dennoch sind transnationale Verbindungen aus ökonomischen Gründen zentral und stellen für die kubanischen Kleinunternehmer_innen ein symbolisches Kapital dar. Ob soziokulturelle Transfers stattfinden, hängt von den Lebensbereichen ab, in denen diese einen Bedarf sehen. Für die Cuentapropistas sind Social Remittances in der sozio-ökonomischen Sphäre von Bedeutung, aber werden in der sozio-politischen Sphäre abgelehnt. Ein zentrales Ergebnis der Masterarbeit ist daher die Unterscheidung von Socio-economic Remittances und Socio-political Remittances. Erstere sind Arbeitsnormen, unternehmerische Werte und Know-How für den Privatsektor und werden im aktuellen Reformprozess Kubas aufgrund der fehlenden Expertise und ökonomischen Mängel als sehr wichtig und konkret anwendbar erachtet. Zweitere sind materialistische und individualistische Werte, die mit sozialen Problemen wie Ungleichheit und fehlendem sozialen Zusammenhalt assoziiert werden. Diese Vorstellungen über den Lebensstil im kapitalistischen Ausland werden stark abgelehnt, denn die interviewten Kleinunternehmer_innen sind stolz auf das Sozialsystem und das soziale Miteinander Kubas.
Die Resultate der Masterarbeit tragen zur Debatte um das transformative Potential von Migration in Herkunftsländern bei. Einerseits leisten sie einen theoretischen und empirischen Beitrag zum Konzept der Social Remittances, indem ein Fokus auf ihre Übersetzung und Anpassung in den lokalen Kontext gelegt wird, aber auch methodische Schwächen aufgezeigt werden. Andererseits betonen sie die Relevanz des Transnationalismus-Paradigmas nicht nur für Kuba, sondern in allen Migrationskontexten.
Der kubanische Fall zeigt, wie wichtig es ist, sozio-kulturelle Komponenten sowie die Sichtweisen lokaler Akteur_innen auf Migration stärker zu berücksichtigen. Die Relevanz transnationaler Verbindungen lässt nämlich weder automatisch darauf schließen, dass soziokulturelle Transfers tatsächlich stattfinden, noch dass diese zu sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in den Herkunftsländern in Richtung eines normativ bestimmten Entwicklungsmodells führen. Weiterhin weist das zentrale Forschungsergebnis, die Ambivalenz transnationaler Verbindungen, auf ein Paradox der heutigen Welt hin, nämlich die Wirkmächtigkeit nationalstaatlicher Diskurse in Politik und Gesellschaft, während immer mehr Menschen ein transnationales Leben führen.