Masterarbeit, Fachbereich Literaturwissenschaft, 109 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Als ich 2014 das erste Mal in Kamerun war, beschrieb man mir das Land, in dem Alltagskonflikte rasch eskalieren können, als „Grab unter offenem Himmel“.1 In meiner Masterarbeit wollte ich herausfinden, wie man in einem solchen Umfeld von Europa erzählt: Was beinhaltet das Narrativ vom „Paradies Europa“, wie ist es aufgebaut und welche Folgen hat es? Die Ergebnisse der Arbeit bestätigen, dass der kamerunische Kontext sehr gut für die anwendungsorientierte Erzählforschung geeignet ist, eine methodische Herangehensweise an der Schnittstelle zwischen Literaturwissenschaft und Ethnologie. Denn in sozialen Umbruchssituationen treten elementare Erzähloperationen in besonderer Weise zutage. Meine analytische Grundkategorie, das Narrativ, setzt eine Abstraktionsleistung voraus, die eine große Anzahl an (Alltags)Erzählungen auf wiederkehrende Grundmuster hin analysiert. Während meiner siebenwöchigen empirischen Feldforschung in der kamerunischen Hauptstadt Yaoundé mithilfe von (teilnehmender) Beobachtung, teilstrukturierten Interviews und informellen Gesprächen, konnte ich ausreichend Erzählmaterial sammeln, um die Meistererzählung vom sicheren Erfolg im „Paradies Europa“ als bestimmendes Narrativ zu identifizieren.
Anhand der Untersuchung offizieller politischer Meistererzählungen und dem konträren common sense der Mehrheit der Bevölkerung, die sich von politischer und wirtschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen fühlt, konnte ich die Positionierung der Erzählinstanz als einen der wichtigsten Faktoren für ein Verständnis grundlegender kamerunischer Deutungskämpfe ausgemachen. Für die unterdrückte Bevölkerung ist es angesichts eines zunehmend gewaltbereiteren Regimes nahezu unmöglich, ihre eigenen Meistererzählungen in letzter Konsequenz zu etablieren. Zu der Angst vor physischer Gewalt kommt außerdem ein akuter Mangel an gegenwartsbezogenen und zukünftig orientierten politischen Alternativen.
Aus diesem Gefühl der Resignation und des permanenten Ausgeschlossen-Seins heraus wenden sich viele junge Kameruner von ihrer exklusiven Erzählgemeinschaft ab - nach Europa hin. Denn die Meistererzählung von Europa transportiert ein attraktives Inklusionsversprechen: Wer nur hart genug arbeitet, den erwartet dort das Paradies. Erfolg, verstanden als finanzielle Sicherheit und materieller Wohlstand, garantiert in der Folge Anerkennung und Bewunderung durch die heimische Erzählgemeinschaft. Um in hohem Maße inklusiv wirken zu können, muss das master narrative einige erzähltechnische Voraussetzungen erfüllen. Es knüpft beispielsweise an bereits bestehende kulturelle Gedächtnisbestände an und spannt im Idealfall Bedeutungsbögen über mehrere Zeithorizonte hinweg - zum Beispiel von den soliden deutschen Kolonialbauten, über den aufrichtigen Charakter der Deutschen, hin zur Überzeugung, dass Leistung sich dort sicher lohne. Um derartige schwache Kausalverbindungen aufrechterhalten und im großen Maßstab soziale Energien binden zu können, bleibt die Paradieserzählung geographisch und inhaltlich ausreichend vage und grenzt sich gleichzeitig permanent von der konkreten Erfahrung der kamerunischen Misere ab. Bei der Betrachtung des Eigenen wird oft generalisierend auf das etablierte Erzählmuster eines defizitären Afrika als das Andere Europas zurückgegriffen. Da sich wirkmächtige Erzählungen stets einfachen Schemata anpassen müssen, ist binäre Abgrenzung auch bei national orientierten Europaerzählungen das Mittel der Wahl: Die tief verankerte Verachtung gegenüber Frankreich erlaubt im Gegenzug eine Glorifizierung Deutschlands und hält so trotz der negativen Präsenz der Franzosen den Traum von Europa aufrecht.
Zahlreiche lokale Heldenfiguren, die die etablierte Plotstruktur von Aufbruch, Abenteuer und erfolgreicher Rückkehr erfüllen, garantieren die hohe Affektbesetzung der Europavorstellung. Die vielversprechende Offenheit des master narratives kann Ängste, Hoffnungen und Erwartungen binden und stützt sich dabei auf kollektive Überzeugungen. Diese Gewissheiten über Europa beruhen oft auf medialen Selbsterzählung von Migranten in sozialen Netzwerken oder auf den materiellen Folgen von remittances aus der Diaspora. Ce que je vois, die unmittelbar zugängliche oder medial vermittelte, bruchstückhaft-visuelle Botschaft aus Europa gibt dem Erfolgsnarrativ ein bekanntes Gesicht und sichert Evidenz, die nur schwer zu erschüttern ist. Appadurai untersucht dieses Phänomen unter dem Schlagwort der imagined worlds.
Migration nach Mbeng2 ist ein einflussreiches Konzept, weil es eine hoffnungsfrohe Zukunft verspricht und gleichzeitig vor Kontingenz zu schützen scheint. Das so konstruierte Imaginarium Europa drängt nach Wirklichkeitsgeltung. Angesichts der schwierigen Lebensumstände wirkt diese dauerhaft präsente visionäre Vorstellung in vielen Fällen handlungsauslösend. Aus diesem Akt der Omnipräsenz und des Immer-Wieder-Erzählens heraus entsteht das Phänomen, dass viele Kameruner unbedingt nach Europa wollen, aber nur erstaunlich wenig über ihr Migrationsziel wissen - denn Meistererzählungen erbringen „Stabilisierungsleistungen im Modus unvollständigen Wissens“.3 Die enorme Erwartungssicherheit kamerunischer Erzählkonventionen über Europa hat persönliche Konsequenzen für viele DiasporakamerunerInnen, deren Lebensrealität sich nicht in den common sense vom leichten Leben in Europa einfügen lässt, an dem die Diaspora in Form finanzieller Unterstützung Teilhabe gewähren soll. Wenn sie eine alternative, individuelle Geschichte artikulieren, müssen sie mit konkreten Sanktionen wie Spott oder sogar dem dauerhaften Ausschluss aus der Gemeinschaft rechnen. So ringen viele MigrantInnen gefangen in einem einst temporär gedachten Schwellenzustand dauerhaft um „physische und erzählerische Selbstbehauptung“.4
Der erzähltheoretische Ansatz ist deshalb so gewinnbringend, weil er die einzelnen Erzähloperationen feingliedrig sichtbar macht und sie in ihren spezifischen Funktionen analysiert, ohne dabei das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren. Dieser Überblick über das master narrative und seine Folgen erlaubt mir zum Beispiel die Einsicht, dass eigentlich zwei ähnliche Meistererzählungen bei der Konstruktion des Imaginariums Europa zusammenwirken. Die geschichtlich verankerte und im Kolonialismus gewaltsam durchgesetzte eurozentristische Vorstellung „europäischer Überlegenheit“ hat immer noch eine große raumzeitliche Präsenz im kamerunischen Alltag und im kollektiven Gedächtnis. Diese Alltagsspuren regen gemeinsam mit westlichen Medien work of the imagination an,5 denn alles Sichtbare erzählt Europa als erstrebenswertes Vorbild. Die Präsenz zahlreicher europäischer Institutionen zeugt von der Kontinuität dieser Vorstellungen auf europäischer Seite. Am Beispiel der deutschen auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik konnte ich zeigen, dass die deutschen Institutionen mit ihren hohen finanziellen Etats das bestehende Deutschlandbild positiv verstärken und sich durch ihre nicht zu unterschätzende materielle und institutionalisierte Macht der Notwendigkeit einer ständigen Thematisierung ihrer Existenzberechtigung im postkolonialen Kamerun entziehen.
Die Einbettung der Thematik in tiefgreifende globale Machtverhältnisse verlangt eine gründliche Selbstreflexion der Forscherrolle und meiner eigenen Situiertheit als weiße Deutsche. Ich musste zunächst ein Bewusstsein für den Forschungsprozess als Serie elementarer erzählerischer Aushandlungen zwischen Interaktionspartnern entwickeln. Bei einer narratologischen Analyse, speziell in einem fremden Kontext, müssen folglich sowohl die eigene Erzählposition, als auch die des jeweiligen Gesprächspartners besonders berücksichtigt werden. Die auf einer umfassenden Selbst- und Methodenreflexion beruhenden Ergebnisse meiner Masterarbeit unterstreichen die Vorteile einer narrativen Herangehensweise, die Machtfragen und Abhängigkeiten in Erzählkontexten stets mitreflektiert und so der Materialität von Repräsentationen gerecht werden kann.
1 2014 habe ich ein Praktikum in der Sprachabteilung des Goethe Instituts in Yaoundé/Kamerun absolviert.
2 Der Ausdruck Mbeng bezeichnet hauptsächlich Migrationsziele im Westen, am häufigsten Europa, die USA und Kanada.
3 Vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, S. Fischer Verlag GmbH, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2013, S. 300.
4 Vgl. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 247. Hervorhebung original.
5 Vgl. Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, University of Minnesota Press, 9. Auflage, Minneapolis 2010, S. 3ff.