Bachelorarbeit, Fachbereich Geowissenschaften, 43 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Meine Bachelorarbeit, welche ich im Jahr 2017 eingereicht habe – als eines der Jahre, in denen die Debatten um Migration in Europa, in Deutschland, besonders hitzig geführt wurden – setzt sich mit der Rolle von Karten in politischen Verhandlungen um Migration auseinander.
Karten, sowohl in den Medien, als auch in wissenschaftlichen Artikeln suggerieren die Flucht als "Welle" oder "Strom" mit dem (alleinigen) Ziel Europa. Und wenn nicht Überforderung, dann suggeriert dies zumindest weitgehend das Bedürfnis, diese unkontrollierten und zahlreichen Ankommenden doch wenigstens strukturiert unterzubringen. Doch auch strategisch haben Kartographie und Geoinformation ihre Rolle in der Migrationspolitik gefunden; insbesondere ihre digitale Dimension trägt einen maßgeblichen Teil dazu bei: so sind es auf der einen Seite digitale Überwachungstechniken und eine nahezu in Echtzeit mögliche Überwachung des Mittelmeerraumes, aber auch interaktive Karten der EU-Grenzschutzorgane wie die MTM-Dialog Karte als Teil der I-Map, die einen internationalen Informationsaustausch zur möglichst effizienten Abwehr von irregulären Migrant*innen möglichst schon vor den EU-Außengrenzen sicherstellen sollen.
Demgegenüber stehen einige kritische Migrationsforscher*innen (u.a. De Genova et al. 2015), die Migration nicht mehr als Problem, sondern als legitime, soziale Praxis verstanden sehen möchten. Sie schufen mit dem vagen und nicht vollständig angenommenen Konzept der Autonomie der Migration (s. u.a. Scheel 2015) einen Vorschlag zum Umdenken, um eine menschenfreundlichere und grundsätzlich andere Einwanderungspolitik herauszufordern. Und auch die mächtige Rolle der Kartographie fand bereits Einzug in das methodische Repertoire dieser Forscher*innen (s. Cobarrubias/Pickles 2009), die sich nicht mehr mit einer Wissenschaft begnügen möchte, die Machtverhältnisse nur reproduziert, bestenfalls dekonstruiert. Sie stellen sich Fragen, wie Menschen Migration wahrnehmen und wie die Perspektive weg von Migration als Problem und hin zu den Subjekten, die Migration machen, denen, die als Objekte und Opfer oder Täter stigmatisiert werden, ausgerichtet werden kann.
Zielsetzung und Aufbau der Arbeit
Vor der Hintergrund dieser thematischen sowie konzeptionellen Hintergründe galt es in meiner Arbeit, die diskursiven Dimensionen von Karten und deren Rolle im aktuellen Diskurs um Migration herauszuarbeiten und anhand einer interaktiven Karte des EU-Grenzregimes, der bereits genannten MTM-Dialog-Karte (I-MAP). Hierfür habe ich zunächst in die Kritische Kartographie als eine Form der Diskurstheorie eingeführt und aufgezeigt, wie Karten als Produzenten von Wirklichkeit verstanden werden können. Im zweiten Kapitel habe ich mich auf die Dekonstruktion von Karten fokussiert. Wie Karten im sowie als Diskurs und als Zeichensysteme fungieren, mit der Folge, dass Karten niemals neutral sein können, wird hier erklärt. Zudem wird bereits methodisch eingeleitet, wie eine Dekonstruktion einer Karte durchgeführt werden kann. Drittens habe ich der Methode der Dekonstruktion als theoretisch-analytischer Ansatz die praktische Seite der Counter-Mappings gegenübergestellt. Im Sinne einer emanzipatorisch angelegten Forschung habe ich eine Forderung an die Wissenschaft, nicht nur bestehende Wirklichkeiten, die in Karten (re-)produziert werden, offenzulegen.
Vielmehr plädiere ich für eine Wissenschaft, die ihre politische Wirkung anerkennt und daher Stellung beziehen sollte, weshalb ich Gegen-Kartierungen als Strategie aktiver, methodischer Eingriffe in aktuelle Politiken durch die Methode der Kartographie zusammengetragen habe. Es folgt schließlich der empirische Teil der Arbeit, in welchem die Teilkarte MTM-Dialog der sog. I-MAP dekonstruiert wird: anhand der drei Kategorien Grenze, Nationalstaat und Migration selbst habe ich aufgezeigt, welche Paradigmen in aktuellen Debatten um Migration vorherrschen und inwiefern die Karte als Mittel zur (Re-)Produktion von migrantischen Wirklichkeiten gesehen werden kann.
Ergebnisse: Chancen der Kritischen Kartographie für eine kritische Migrationsforschung
So zeigte die Dekonstruktion anschaulich die aktuelle Strategie der Externalisierung des Migrationsmanagements der EU. So werden nationalstaatliche Grenzen in der Karte eher geringgeschätzt; präsenter sind die Migrationsrouten, die als dicke Linien dargestellt werden, aber auch als interaktive Elemente regelmäßig erneuert werden. Dies spricht für die scheinbare Relevanz der Grenzschutzorgane, Migration, d.h. Migrant*innen außerhalb des Territoriums der EU, bis nach Afrika hinein, zu kontrollieren und deren Wege abzuschneiden. Migration wird damit als Bewegung konstruiert, die einerseits eine Bedrohung für die europäischen Nationalstaaten darstellt und bekämpft werden muss. Die nationalstaatliche Kategorie wird dabei scheinbar aufgelöst – jedoch zu dem Zweck instrumentalisiert, auch über das EU-Gebiet hinaus staatliche Souveränität ausüben zu können. Die Dekonstruktion der I-MAP zeigt auf, dass die Kartographie einerseits eine große Rolle bei der Umsetzung der Externalisierungsstrategie des EU-Grenzregimes spielt. Sie festigt das Bild von Migration als problematische Entwicklung von Europa und dient gleichzeitig als Informationsgrundlage, um eben diese Entwicklung aufzuhalten. Im Angesicht der in der Arbeit aufgeführten Strategien des „Counter-Mapping“ zeigt sich jedoch auch, welche Perspektiven auf Migration in dieser Repräsentation nicht vorkommen: die Sichtweise der Migrant*innen. Diese können jedoch in Form von widerständigen Kartographien Deutungshoheit erkämpfen, indem sie andere Verortungen, Subjektkonstruktionen und Migrationsgeschichten darstellen, als es Akteur*innen des Migrationsregimes tun. In meiner Arbeit konnte ich zeigen, dass die Kritische Kartographie daher für die kritische Migrationsforschung sowohl in ihrer theoretisch-analytischen Dimension, als auch mit ihrer praktisch-emanzipatorischen Herangehensweise eine wichtige Theorie und Methodik darstellt, um neue Wege zu neuen Migrationspolitiken zu visualisieren und die Politik des sogenannten Migrationsmanagements herauszufordern. Dies stellt gerade in einer Zeit, in der Migration und Flucht diskursiv als Gefahr für die nationalstaatliche Souveränität konstruiert werden und in der nationalistische Stimmen immer lauter werden eine ernstzunehmende Herausforderung für eine kritische Wissenschaft dar.
Quellen
Cobarrubias, S., Pickles, J. (2009). “Spacing Movements: The Turn to Cartographies and Mapping Practices in Contemporary Social Movements.” In: Warf, B. and Arias, S. (Hrsg.). The spatial turn: Interdisciplinary perspectives. London: Routledge, 36-59.
De Genova, N., Mezzadra, S., Pickles J. (Hrsg.) (2015): New keywords: Borders and migration. Cultural Studies 29 (1), 55–87.
Scheel, S. (2015): Das Konzept der Autonomie der Migration Überdenken? Yes please! In: movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung 1 (2), 1-14.