Die chilenische Studierendenbewegung 2011-2015 und die Konstruktion von Gegen-Hegemonie

Autor: Schwabe, Nicole
Jahr: 2015

Masterarbeit, Fachbereich Abteilung Geschichtswissenschaft, 80 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

Das Jahr 2011 stellt in der jüngsten chilenischen Geschichte eine Zäsur dar. Es kommt zu den größten Demonstrationen seit dem Ende der Diktatur. Zahlreiche Universitäten und Schulen werden monatelang besetzt. Die Bewegung besteht aus Universitätsstudierenden wie auch Sekundarschüler_innen, hat einen starken Rückhalt in der Bevölkerung und schafft es, die Debatte über das aus der Militärdiktatur geerbte Bildungssystem zu einem zentralen Thema der nationalen Politik zu machen. Ausgehend von diesem Konflikt lässt sich das Auftauchen neuer politischer Kräfte im Land beobachten. Eine Generation die am Ende der Militärdiktatur bzw. zu Beginn der Demokratie geboren wurde, versucht nicht nur das Bildungssystem, sondern auch die Demokratie neu zu denken und politische Gruppen und Parteien zu formieren, die das bestehenden politische und wirtschaftliche Modell in Frage stellen und Alternativen zu diesem entwickeln.

Die Arbeit “Die chilenische Studierendenbewegung 2011-2015 und die  Konstruktion von Gegen-Hegemonie” lehnt sich in theoretischer Hinsicht an die diskursive Hegemonieanalyse nach Chantal Mouffe und Ernesto Laclau an.Ausgehend von der Studierendenbewegung der Jahre 2011 bis 2015 wird analysiert, inwiefern eine Alternative zum bestehenden, hegemonialen neoliberalen Projekt aufgebaut wird, welches in der Militärdiktatur gewaltsam implementiert wurde und sich in der postdiktatorischen Gesellschaftsordnung weiter verfestigt und ‚naturalisiert‘hat. Es geht dabei um die Frage inwiefern die Debatte um das Bildungssystem als Ausgangspunkt für eine Debatte betrachtet werden kann, die das aktuelle Entwicklungsmodell in Frage stellt und diesem Alternativen entgegenstellt.

In der Betrachtung historischer Verflechtungsbeziehungen wird deutlich, dass die Implementierung eines neoliberalen Projektes in Chile nicht ohne den gewaltvollen Kontext der Militärdiktatur und die Unterdrückung bzw. Ausschaltung jeglicher Opposition zu verstehen ist. Eben weil Universitäten und der Bildungsbereich generell in den 1960er/70erJahren eine Keimzelle gesellschaftlichen Wandels darstellten, waren diese in der Militärdiktatur extrem von derstaatlichen Repression betroffen. Kritische Stimmen wurden ausgeschaltet, linke Intellektuelle, politisch aktive Lehrer_innen, Schüler_innen und Studierende verfolgt, gefoltert, ins Exil getrieben oder ermordet. Das Bildungssystem wurde streng überwacht und zur Legitimierung der Gewaltherrschaft benutzt. So schaffte es das Militärregime die mit einem Putsch durchgesetzte politische und wirtschaftliche Ordnung nachträglich zu legitimieren. Auch innerhalb subalterner Bevölkerungsschichten schaffte man es, einen Konsens zum neoliberalen Projekt herzustellen.

Ein Bröckeln eben dieses Konsens lässt sich spätestens mit dem Aufkommen massiver Proteste im Jahr 2011 beobachten. Doch auch bereits in den vorhergehenden Jahren kam es zu Protesten von Schüler_innen (2000 el mochilazo; 2006 la revolución pingüina), die eine zunehmend anti-neoliberale Kritik artikulierten. Der Schwerpunkt der in der Arbeit durchgeführten Hegemonieanalyse liegt auf dem politischen Diskurs und insbesondere auf den Forderungen der Studierendenbewegung.Durch die im Februar und März 2015 durchgeführten Interviews mit Repräsentant_innen der Bewegung wurde versucht das selbstreflexive Potenzial der Studierendenbewegung über die eigenen politischen Strategien in die Analyse einzubeziehen.

Die Studierenden grenzen sich vom aktuellen Bildungssystem ab und kritisieren dieses für die großflächige Privatisierung von Bildungseinrichtungen, die Verlagerung der Kosten des Bildungssystems auf die Familien, fehlende staatliche Kontrolle über das Bildungssystem und die Orientierung an Marktmechanismen. Damit wird eine fundamentale Kritik am bestehenden politischen System verbunden und die Selbstentmachtung des öffentlichen Sektors infrage gestellt. Seit der Militärdiktatur lassen sich ein Rückzug des Staates aus dem Bildungsbereich und die zunehmende Durchsetzung einer Marktlogik beobachten. Damit verbunden ist ein fundamentaler Wandel des Bildungsverständnisses. Die am Bildungssystem artikulierte Kritik ist extrem anschlussfähig für die Thematisierung der Vernachlässigung verschiedener anderer gesellschaftlicher Bereiche durch den Staat. Mit Blick auf das Bildungssystem wird ein Paradigmenwechsel eingefordert.Dieser wird durch die Forderung, Bildung als ein soziales Recht zu fassen, repräsentiert. Im Grunde geht es dabei um die Implementierung eines öffentlichen Bildungssystems, das kostenfrei zugänglich sowie qualitativ hochwertig ist.

Der Bildungskonflikt birgt nicht nur auf Grund einer exemplarischen Funktion eine gesamtgesellschaftliche Sprengkraft. Ein Großteil der Bevölkerung steht mit dem Bildungssystem in irgendeiner Verbindung. Durch die extrem hohen Kosten für Schulgelder und Studiengebühren verschulden sich oft ganze Familien. Eine Transversalität entwickelt das Thema Bildung durch ein meritokratisches Prinzip. Dieses basiert auf der Annahme, es existiere ein herkunftsunabhängiger Zugang zum und eine Chancengleichheit im Bildungssystem. Bildungserfolg wird damit aufeine individuelle Leistung zurückgeführt und gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen, die durch das Bildungssystem reproduzierten werden,legitimiert.Im Fall Chiles lässt der Faktor einer extrem hohen privaten Eigenfinanzierung des Bildungssystems diese soziale Exklusion sichtbarer werden als in anderen Kontexten. Dass sich dennoch die Durchsetzung eines meritokratischen Prinzips in der chilenischen Gesellschaft beobachten lässt und große Teile der Bevölkerung sich für ein Universitätsstudium hoch verschulden, macht dessen Perfidität deutlich. Die breite Unterstützung für die Studierendendenproteste in der Bevölkerung wird von Repräsentant_innen der Bewegung als Ergebnis eines Bruchs mit eben diesem Glauben an die Meritokratie interpretiert. Gleichzeitig stellt ein universales Recht auf Bildung den zentralen Knotenpunkt des Diskurses der Studierendenbewegung dar und ein konkretes diskursives Element für das Allgemeinwohl. Die sich aus einem meritokratischen Prinzip ableitende Transversalität von Bildung wird als Instrument gegen damit einhergehende Exklusionsprozesse gewendet,indem die Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das Bildungssystem und der exklusive Charakter des politischen Systems aufgedeckt werden.Eine kritische Selbstreflexion, inwiefern durch ein kostenlos zugängliches Bildungssystem tatsächlich mit einem meritokratisches Prinzip gebrochen wird bleibt jedoch offen.

Die Studierendenbewegung hat dazu beigetragen das gesellschaftliche Fundament zu re-politisiert und mit der Artikulation eines ausgeprägten Antagonismus einen Grundstein für ein gegen-hegemoniales Projekt gelegt. Mit Bezug auf die Frage nach Potenzialen und Grenzen des Knotenpunktes Bildung als soziales Recht zu einem Bezugspunkt einer breiten sozialen Bewegung zu werden, die gesellschaftliche Alternativen aufzeigt, lässt sich dennoch eine bescheidene Bilanz ziehen. An dem Thema lässt sich zwar beispielhaft eine Konflikthaftigkeit der postdiktatorialen politischen Ordnung aufzeigen,dennoch sind die Kapazitäten der Studierendenbewegung als politischem Akteur sowie die Debatte um Bildung begrenzt.

Umso spannender ist der Blick auf neue politische Akteure und Parteien, die aus der Bewegung entstanden sind. Dabei wird deutlich, dass eine neue Generation in die politische Arena eingetreten ist für die der Abriss des Fundaments des aktuellen politischen Systems elementar ist. Die gesellschaftliche Relevanz des Forschungsthemas ergibt sich nicht nur aus der politischen Brisanz der Studierendenbewegung und der Debatte um das Recht auf Bildung in Chile, sondern ebenso aus einer Übertragbarkeit der dort zu beobachtenden Tendenzen auf andere politische Kontexte. Zwar weist der Fall Chiles in der Radikalität, mit der ein neoliberales Modell nach einem Militärputsch gegen die sozialistische Regierung Salvador Allendes im Jahre 1973 eingeführt wurde, eine Einzigartigkeit auf. In vielen anderen lateinamerikanischen Ländern fand ein solcher Prozess erst in Folge der Schuldenkrise statt und bedurfte ganz anderer Propagierungsmechanismen.In Deutschland lässt sich die Präsenz einer Privatisierungsdebatte in der parteipolitischen Auseinandersetzung und eine damit einhergehende Selbstentmachtung des öffentlichen Sektors seit den 1980er Jahren beobachten. Trotz der sehr unterschiedlichen Umstände,in denen ein neoliberales Projekt implementiert wurde, lassen sich am Extrembeispiel Chile dennoch Tendenzen erkennen, die sich in anderer Form beispielsweise auch in neoliberalen Reformen des deutschen Hochschulsektors, abzeichnen. Beispiele dafür sind die bundesweiten Umstrukturierungen durch den Bologna-Prozess oder die Exzellenzinitiative zur Förderung von Wissenschaft und Forschung.

Die Analyse der Forderungen der chilenischen Studierendenbewegung, die für die Anerkennung von Bildung als universalem sozialen Recht kämpft, bringt auch eine Debatte um Bildung für nachhaltige Entwicklung weiter. Anstatt wie verschiedene internationale Bildungsprogramme den Fokus darauf zu legen MEHR Bildung in die Welt zu bringen,wird beim näheren Betrachten des Bildungskonfliktes in Chile deutlich, dass ein kritisches Hinterfragen von Bildungssystemen in Hinblick auf Interessen, Ziele und Machtstrukturen zentral ist.