Die Rolle der Theorie über scham- bzw. schuldgeprägte Kulturen für die interkulturelle Kompetenz in der begleitenden Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

Autor: Kaiser, Hannah
Jahr: 2017

Bachelorarbeit, Fachbereich Theologie/Soziale Arbeit im interkulturellen Kontext, 67 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

Die vorliegende Bachelorarbeit setzt sich mit der Theorie über scham- und schuldgeprägte Kulturen (SSK) im Zusammenhang der begleitenden Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) auseinander und erfragt im Sinne der Sozialforschung ihre Rolle für die Interkulturelle Kompetenz in der begleitenden Arbeit. Die Auseinandersetzung mit der Theorie von SSK im Kontext der begleitenden Arbeit mit UMF zielt darauf ab, Hilfestellungen und eine Vertiefung kultureller Sensibilität im Umgang mit UMF zu ermöglichen. Hierzu kommt es im ersten Teil der Arbeit literaturgestützt zu Erläuterungen über Interkulturelle Kompetenz, die Personengruppe UMF und kulturelle Gesichtspunkte, welche bei der Begleitung dieser Beachtung finden sollten. Auf diese Weise sollen ausgewählte Erkenntnisstände erschlossen werden, die für den weiteren Verlauf der Arbeit relevant erscheinen. Darauf folgt im zweiten Teil eine Beschäftigung mit der Theorie über SSK, aus der sechs Aspekte extrahiert werden, die mithilfe der qualitativen Sozialforschung, deren Forschungsvorgang im dritten Abschnitt der Arbeit erklärt wird, erforscht werden. Die Ergebnisse der Forschung werden dann im vierten und fünften Teil der Arbeit dargestellt und diskutiert, worauf ein abschließendes Fazit folgt, in dem die wichtigsten Erkenntnisse und Antworten auf die Forschungsfrage noch einmal zusammengefasst werden. Gegenstand des Interesses bilden dabei die einschlägige Literatur über Interkulturelle Kompetenz und die kulturellen Anforderungen der begleitenden Arbeit mit UMF. Auf die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit wird im Folgenden kurz eingegangen:

Interkulturelle Kompetenz wurde als diejenige Kompetenz herausgearbeitet, die anstrebt, eine Interaktion zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Gesellschaften zu ermöglichen, die dauerhaft erfolgreich und kultursensibel stattfindet. Spezielle kulturelle Anforderungen wurden vor dem Hintergrund dieser angestrebten erfolgreichen Interaktion herausgegriffen und beleuchtet. Im Zusammenhang der begleitenden Arbeit mit UMF stellten sich folgende Aspekte als bedeutsam heraus: Zum einen die Abhängigkeit und Beeinflussung von der Familie als Orientierungssystem gepaart mit der Suche nach neuen Orientierungsrahmen in einer fremden Kultur. Dann die Identitätsfindung als Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz zeitgleich mit der Situation kultureller Überschneidungen, in der UMF sich befinden. Außerdem die Konzepte des Empowerment und der Resilienz, die in der deutschen Jugendhilfe verfolgt werden und für UMF mit ihrem kulturellen Hintergrund Herausforderungen bergen, sowie die Notwendigkeit und Chance kultureller Sensibilität, die durch eine Auseinandersetzung mit der eigenen und fremden Kultur entsteht. Aus dem Diskurs zur Theorie über SSK ergibt sich der Gedanke, dass jedes Individuum Träger beider Emotionen, sowohl der Scham als auch der Schuld und damit verbundener Gesellschaftstypen ist. Dadurch erklärt sich das gleichzeitige Bedürfnis nach Gesellschaftszugehörigkeit und Individualität. Im Zentrum steht die Frage nach dem Zuspruch von Identität und Anerkennung, der von einer Gruppe oder dem eigenen Selbst ausgeht. Kulturelle Differenzen ergeben sich, die sich auf Denken und Handeln der Gesellschaftsmitglieder auswirken. Da die Arbeit sich der Frage stellt, ob und durch welche Inhalte die Theorie über SSK einen Beitrag zum kulturellen Lernen von Fachkräften, die in der begleitenden Arbeit mit UMF tätig sind, leisten kann, wurden ausgewählte Aspekte der Theorie mithilfe der qualitativen Sozialforschung auf ihre Praxisrelevanz hin erforscht. Es wurde deutlich, dass die Theorie durchaus den Verstehenshorizont erweitert und wichtige Aspekte, die in der Praxis hilfreich sein können, bestätigt werden. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass UMF oft aus Kulturen stammen, in denen Scham ein Phänomen darstellt, welches das gesellschaftliche Leben wesentlich reguliert. Soziale Schande, Ehrverletzung und die Anwesenheit von Dritten werden als Faktoren herausgestellt, welche in der begleitenden Arbeit insbesondere im Umgang mit Konfliktund Kritiksituationen Sensibilität erfordern. Des Weiteren wird ein Unterschied zwischen Innenleitung, bei der die Gesellschaft auf ein inneres Wertesystem vertraut und Außenleitung, bei der äußere Autoritäten, Gruppen und hierarchischen Strukturen Werte vertreten, festgestellt. Drittens wird ein Selbstbezug durch Schamprägung festgestellt, der dazu führt, dass viele UMF Fehlverhalten verleugnen, weil sie als dessen Folge Entwertung, persönliches Scheitern und einen Ausstoß aus der Gemeinschaft erwarten. Viertens bietet die Theorie einen Verstehenshorizont für die Entstehung von Identitätskrisen, die sich durch Spannungen und Widersprüchlichkeiten in der Existenz von UMF wegen der kulturellen Überschneidungssituation ergeben, in der sie sich befinden. Die Theorie verhilft des Weiteren zu mehr Verständnis und einer richtigen Einordnung vieler Konflikte, die sich durch kulturelle und situative Spannungen zwischen Autonomie und Bindung im Alltag von UMF ergeben. Letztlich wird durch die Untersuchung bestätigt, dass UMF in der Regel Werte und Normen des Kollektivs höher achten als individuelle, wobei sie sich - in manchen Fällen sogar durch Anpassung an die deutsche Kultur - Zugehörigkeit und Schutz der Gemeinschaft erhoffen. Eine Beschäftigung mit der Theorie über SSK erweist sich als gewinnbringend. Sie fördert kulturelle Sensibilität, schafft Weitsicht und ermöglicht kompetente Handlungsfähigkeit in Bezug auf die begleitende Arbeit mit UMF.