Bachelorarbeit, Fachbereich Philologie und Philosophie, 42 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Im Zentrum der Arbeit steht die International Organization for Migration (kurz: IOM) und die von ihr unterstützten „Assisted Voluntary Return and Reintegration“-Programme (kurz: AVRR-Programme). Im Rahmen dieser Programme wird der IOM häufig vorgeworfen, dass sie sich einerseits durch ihre Rhetorik zwar zur Einhaltung von Migrantenrechten bekennt, ihre Handlungen im Bereich der Migrationskontrolle andererseits jedoch häufig solchen Grundsätzen widersprechen. Im Hinblick auf diese Kritik findet die Arbeit mithilfe von Brunssons Ansatz Organisierte Heuchelei nicht nur eine Erklärung für das widersprüchliche Verhalten der IOM, sondern beschäftigt sich gleichzeitig mit der zentralen Frage, wie es der IOM gelingen kann, das von ihr proklamierte Prinzip des Global Migration Management zu etablieren. Darüber hinaus wird Brunssons ursprünglich innenpolitischer Ansatz auf seine Eignung für die Anwendung im Bereich der Internationalen Beziehungen getestet und so ein wissenschaftlicher Mehrwert für die internationale Organisationsforschung generiert. Brunsson entwickelt in seinem Ansatz zwei idealtypische Organisationsformen, welche sich auf unterschiedliche Weise externe Legitimität beschaffen: Während die „Action Organization“ aufgrund ihrer Fähigkeit koordiniert und effizient zu handeln, Legitimität gewinnt, gelingt dies der „Political Organization“ durch die Reflexion von Widersprüchen.
Folglich wird im Rahmen der Analyse die theoretisch abgeleitete Hypothese aufgestellt, dass nicht nur die von der IOM angebotenen effizienten Dienstleistungen, sondern auch die bei ihr feststellbare Diskrepanz zwischen „Reden“ und „Handeln“ eine legitimitätssteigernde Wirkung auf die Organisation besitzt. Für die Überprüfung dieser Hypothese wird die − für die Perpetuierung der IOM notwendige − Legitimation als abhängige Variable definiert. Als unabhängige Variable werden sowohl die von der IOM angebotenen effizienten Dienstleistungen, als auch die bei ihr erkennbare Diskrepanz zwischen „Reden“ und „Handeln“ identifiziert. Mithilfe einer Prozessanalyse werden die organisationsinterne, die thematische, sowie die örtliche Entkopplung von „Action“ und „Politics“ als die bei der Organisation zwischen den unabhängigen und der abhängigen Variable vermittelnden Kausalmechanismen identifiziert.
Bei der organisationsinternen Entkopplung geht Brunsson davon aus, dass Organisationen eine handlungsorientierte und eine politikorientierte Einheit bilden, welche isoliert voneinander agieren. Im Rahmen der Arbeit wird gezeigt, dass die Administration der IOM dabei dem von Brunsson entwickelten Idealtypus der „Action Organization“, also der handlungsorientierten Einheit ähnelt, während der Council sich eindeutig der „Political Organization“, also der politikorientierten Einheit zuordnen lässt. Während mithilfe der Analyse der organisationsinternen Entkopplung von „Action“ und „Politics“ bereits ein Einblick in die internen Strukturen, Prozesse und Abläufe der IOM ermöglicht wurde, werden diese Erkenntnisse bei der anschließenden Analyse der themenspezifischen Entkopplung durch den Fokus auf den organisatorischen Output und das äußere Auftreten der IOM auf eine weitere Ebene gehoben.
Die thematische Entkopplung von „Action“ und „Politics“ bedeutet, dass die Organisation abhängig vom Themengebiet bzw. der damit verbundenen Problemstellung mit der sie konfrontiert wird, abwechselnd stärker handlungs- oder politikorientiert agiert. Hierfür wird anhand der AVRR-Programme analysiert, wie die IOM im Themenbereich Migrationskontrolle als „Action Organization“ agiert, während sie im Themenbereich der Migrantenrechte als „Political Organization“ handelt. Während die IOM also einerseits Legitimation gewinnt, weil sie Dienstleistungen im Bereich der Migrationskontrolle effizient durchführt, so wirkt das „Triple-win“-Konzept und die damit verbundene Fähigkeit der IOM auf divergente Strömungen zu reagieren im Bereich der Migrantenrechte legitimitätssteigernd auf die Organisation. Hierbei spielt vor allem das von Brunsson als organisierte Heuchelei beschriebene Phänomen eine bedeutende Rolle. Vor allem an den beiden für die von der IOM durchgeführten AVRR-Programme spezifischen Aspekten Freiwilligkeit und Nachhaltigkeit kann dabei gezeigt werden, dass die IOM als „Political Organization“ ihrer Umwelt mit rhetorischen Bekenntnissen und praktischer Nichtbeachtung begegnet.
Durch die zusätzliche Analyse der örtlichen Entkopplung können die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchungen dazu beitragen, die kausale Beziehung zwischen den beiden unabhängigen und der abhängigen Variable herzustellen. Brunsson versteht unter der örtlichen Entkopplung dabei, dass Organisationen sich anhand der Forderungen der für sie am stärksten legitimitätsstiftenden Umwelt zwischen „Action“ und „Politics“ entscheiden. Insgesamt agiert die IOM somit sowohl in Bezug auf die internen Strukturen und Prozesse, als auch in der Interaktion mit ihrer Umwelt vor allem deswegen als „Action Organization“, weil die Zielstaaten von Migration und deren Wunsch nach effizienter Migrationskontrolle die für die IOM am stärksten legitimitätsstiftende Umwelt darstellen. Die Forderungen der Zivilgesellschaft nimmt die IOM hingegen mit in ihr organisatorisches Output auf, da diese ihr neben den Zielländern von Migration eine weitere Legitimationsgrundlage bieten und somit zum Selbsterhalt der Organisation beitragen. Obwohl die IOM in dem von ihr proklamierten Konzept des Global Migration Management vor allem auf den Effizienzgedanken verweist und daher auf den ersten Blick eher einer „Action Organization“ gleicht, nutzt die Organisation so die Möglichkeit trotz ihrer finanziellen Bindung an ihre Auftrag gebenden Staaten, mithilfe ihres Diskurses auch die Forderungen der Zivilgesellschaft zu befriedigen und somit einen eigenständigeren Charakter zu entwickeln.
Somit gelingt es der IOM anhand der auf verschiedene Weisen vorgenommenen Entkopplung von „Action“ und „Politics“, das Konzept des Global Migration Management nicht nur zwischen den bis dato vorherrschenden konservativen und liberalen Strömungen anzusiedeln, sondern diese konträren Strömungen darüber hinaus auch in einem einzigen Konzept zu vereinen. Gleichzeitig kann im Rahmen der Arbeit gezeigt werden, dass mit der Anwendung von Brunssons Ansatz auf den Bereich der Internationalen Beziehungen eine alternative Herangehensweise an internationale Phänomene gefunden werden konnte, hierfür jedoch nicht nur eine detailreiche Innenansicht der zu untersuchenden Institutionen, sondern auch weitere repräsentative Untersuchungen notwendig sind, um die herausgefundenen Ergebnisse zu stützen.