Examensarbeit, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, 113 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
„Kennst du viele Sprachen – hast du viele Schlüssel für ein Schloß“– eine positive, gewinnbringende Sicht auf Mehrsprachigkeit, welche Voltaire bereits im 18. Jahrhundert formulierte. Dass im deutschen Schulsystem fest verankerte Fremdsprachen wie das Englische oder Französische von globaler Bedeutung sind und entsprechende Handlungsspielräume eröffnen, ist unbestreitbar. Da sich die deutsche Gesellschaft durch eine wachsende kulturelle Heterogenität auszeichnet und 22,5 % der in Deutsch-land lebenden Menschen einen Migrationshintergrund aufweisen, stellt sich die Frage, wie es um weniger global bedeutsame Sprachen, um die Migrantensprachen, in Deutschland bestellt ist: Profitieren Kinder mit Migrationshintergrund ebenso von ihrer Mehrsprachigkeit? Die Ergebnisse internationaler Schulleistungsstudien (IGLU, PISA) zeichnen ein eher negatives Bild, denn zwischen Kindern mit Migrationshintergrund und jenen ohne Migrationshintergrund besteht nach wie vor ein ausgeprägtes Leistungsgefälle. Aufgrund der besorgniserregenden Ergebnisse der Vergleichsstudien, wird seit geraumer Zeit ein intensiver Diskurs über die Bildungsbenachteiligung sowie die sprachliche Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund geführt. Vor dem Hintergrund, dass der Großteil der zurzeit in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei stammen, liegt es nahe, in diesem Zusammenhang ein besonderes Augenmerk auf Kinder mit türkischem Migrationshintergrund zu richten.
Worin genau liegt nun diese Bildungsbenachteiligung begründet? Sind türkischstämmige Kinder mit dem Erlernen zweier Sprachen, dem Türkischen und dem Deutschen, kognitiv überfordert? Einblicke in neuronale und kognitive Aspekte von Mehrsprachigkeit weisen dieses Vorurteil zurück. Das zentrale Problem liegt vielmehr im Aufeinandertreffen von schulischen Anforderungen und fehlenden sprachlichen Vorläuferfertigkeiten: In türkischen Migrantenfamilien nimmt häufig die Erstsprache der Kinder eine dominante Stellung ein. Entsprechend fehlen türkischstämmigen Kindern beim Eintritt in die Schule wichtige Vorerfahrungen im Umgang mit der deutschen Sprache und Schrift, welche die Grundlage des schulischen Unterrichts und folglich auch für Leistungserfolge bilden – die Notwendigkeit einer sprachlichen Förderung ist offensichtlich.
Da die für die Unterrichtssprache notwendige Ausbildung der kognitiv-akademischen Sprachkompetenz einer Lerndauer von fünf bis sieben Jahren bedarf und sich jüngeren Kindern für bestimmte sprachliche Bereiche Erwerbsvorteile gegenüber älteren Lernenden nachweisen lassen, sollte eine sprachliche Förderung bereits im Elementarbereich, und zwar vor dem letzten Kindergartenjahr, ein-setzen. Entsprechend fokussiert die vorliegende Arbeit die Förderung mehrsprachiger Kinder mit tür-kischer Erstsprache im Kindergartenalter.
Eine effektive und zielorientierte Förderung erfordert zunächst die Ermittlung des aktuellen Sprach-stands, da dieser Rückschlüsse auf die Zone der nächsten Entwicklung zulässt. Neben einer gründlichen Anamnese zur Erfassung wichtiger Informationen über die mehrsprachige Sprachenbiografie des Kindes, sind die Beobachtung in spontansprachlichen Situationen sowie der Einsatz von Testverfahren von diagnostischer Relevanz. Die vorliegende Arbeit macht auf Problematiken aufmerksam, welche sich im Rahmen von Mehrsprachigkeit hinsichtlich diagnostischer Tätigkeiten ergeben.
Eine wichtige Grundvoraussetzung für eine wirksame Förderung mehrsprachiger Kinder mit türkischer Erstsprache ist die Akzeptanz und Berücksichtigung der Erstsprache. Diese sollte ebenso wert-geschätzt werden wie eine global bedeutsame Fremdsprache. Erfahren Kinder beim bilingualen Spracherwerb eine angemessene Unterstützung, kann Mehrsprachigkeit sogar mit kognitiven Vorteilen verbunden sein. Entsprechende Kompetenzen in der Erstsprache ermöglichen außerdem die Übertragung und Verknüpfung von sprachlichem Wissen auf die zu erlernende Zweitsprache. Die Förderung und Unterstützung des Türkischen ist folglich ein notwendiger Bestandteil der bilingualen Förderung und darf in keinem Fall vernachlässigt werden.
Inhaltlich sollte vor allem die Entwicklung literaler Kompetenzen im Vordergrund stehen, da diese wichtige Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb bergen. Von Bedeutung sind außerdem mögliche Stolpersteine, die in den Besonderheiten des Erwerbs des Deutschen als Zweitsprache (DaZ) so-wie in den Unterschieden zwischen dem Türkischen und dem Deutschen begründet liegen. Entsprechend beinhaltet die Arbeit neben der Darstellung des DaZ-Erwerbs eine kontrastive Analyse des Türkischen und des Deutschen, um Hinweise auf potentielle Schwierigkeiten des bilingualen Spracherwerbs türkischstämmiger Kinder zu erhalten.
Um die Kinder zu motivieren, sollte sich die Förderung an den Interessen und der Lebenswelt der Kinder orientieren und handlungsorientierte Sprachlernsituationen schaffen. Eine Sprachförderung kann entweder im alltagsintegrierten Rahmen stattfinden oder durch additive Sprachförderprogramme erfolgen. Beide Möglichkeiten werden vor dem Hintergrund ihrer Eignung zur Förderung türkisch-sprachiger Kinder mit Deutsch als Zeitsprache beleuchtet und anhand ausgewählter Beispiele dargelegt. Sowohl für eine alltagsintegrierte Förderung als auch für spezifische Sprachförderprogramme ist außerdem das Sprechverhalten der Bezugspersonen bedeutsam. In diesem Zusammenhang spielen Modellierungstechniken eine wesentliche Rolle, um sprachliche Strukturen in den Aufmerksamkeits-horizont der Kinder zu rücken und den Lernenden ein korrektives Feedback zu geben. Aufgrund der zu erwartenden mangelnden Türkischkenntnisse des Kindergartenpersonals, ist hinsichtlich der Förderung der Erstsprachfähigkeiten darüber hinaus vor allem die Beteiligung der Eltern von Bedeutung. Zu diesem Zwecke muss unbedingt eine Kooperation zwischen Einrichtung und Familien stattfinden, in denen Entwicklungsfortschritte ausgetauscht werden und Eltern in der häuslichen Förderung der Erst-sprache unterstützt werden.
Letztendlich macht die vorliegende Arbeit vor allem darauf aufmerksam, dass von einer defizitorientierten Sicht auf Mehrsprachigkeit dringend Abstand zu nehmen ist – vielmehr muss das Potential der Erstsprache, des Türkischen, anerkannt und effektiv für die Förderung mehrsprachiger Kinder mit Erstsprache Türkisch genutzt werden.