Immigration als Gefahr für die Europäische Union? Der Zusammenhang zwischen Immigration, Identität und Europäischer Integration in Reden ausgewählter PolitikerInnen

Autor: Zier, Larissa
Jahr: 2017

Bachelorarbeit, Philosophische Fakultät, 43 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

Angesichts der stark erhöhten Zahl ankommender Geflüchteter in der Europäischen Union (EU) im Jahr 2015 wurden Warnungen vor der Bedrohung nationaler Identitäten laut. Dies könnte auf eine Ablehnung der Europäischen Integration hindeuten, wird eine Betonung nationaler Identität doch allgemeinhin mit einer solchen Ablehnung in Verbindung gebracht. Eine gewünschte Stärkung nationaler Identität muss jedoch nicht automatisch mit der Europäischen Integration in Konflikt stehen, wie die Wissenschaftler Ole Wæver und Morten Kelstrup (1993) zeigen: Solange die Nationen selbständig gegen die wahrgenommene Bedrohung vorgehen und nicht auf staatliche Lösungen zurückgreifen, kann eine EU-weite politische Identität bestehen. Sobald allerdings Staaten zu der Verteidigung nationaler Identitäten herbeigerufen werden, fällt auch die politische Identität auf die nationale Ebene zurück, was einen Rückschlag für die Europäische Integration bedeutet.

Welche Identitätskonstruktionen, welche Wahrnehmung des Verhältnisses von Staat und Nation sowie welche Vorstellungen einer zukünftigen Europäischen Union liegen der Ablehnung von Immigration durch politische Eliten in ausgewählten Mitgliedstaaten der EU im Jahr 2015 zugrunde? Dem geht diese Bachelorarbeit nach. Sie verschränkt somit zwei Spannungsverhältnisse: jenes von Immigration und nationaler Identität einerseits und jenes von nationaler und europäischer Identität andererseits. Dadurch wird herausgearbeitet, wie Immigration, Identität und Integration in der aktuellen Diskussion miteinander verknüpft werden. Die Arbeit bereichert die existierende spärliche Literatur zu möglichen Zusammenhängen zwischen Immigration und Europäischer Integration um eine empirische Analyse und bringt durch diese Anwendung des ausgewählten Modells von Wæver und Kelstrup deren Aussagen über die Zukunft der Europäischen Integration auf einen aktuellen Stand.

Das theoretische Fundament der Arbeit bildet die Securitization-Theorie von Barry Buzan, Ole Wæver und Jaap de Wilde (Buzan et al. 1998), die eingangs vorgestellt wird. Dieser sozialkonstruktivistischen Theorie zufolge ist die sprachliche Darstellung eines Themas als Sicherheitsproblem zentral, nicht die reale Bedrohungslage. Die Basis solcher Konstruktionen von existenzieller Gefahr bilden sogenannte Sprechakte (speech acts), die somit auch den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit darstellen. Grundlegend für die Arbeit ist auch die Einteilung des Forschungsfeldes durch die drei genannten Autoren in fünf Sektoren, von welchen in diesem Rahmen der gesellschaftliche und der politische betrachtet werden. Im gesellschaftlichen Sektor geht es um Bedrohungen sogenannter Gesellschaften, also beispielsweise Nationen; im politischen Sektor vor allem um Gefahren für Staaten.

Im weiteren Verlauf des theoretischen Teils werden die beiden genannten Spannungsverhältnisse genauer betrachtet. Bedeutend für das erste Spannungsverhältnis ist insbesondere der Vorgang der Konstruktion einer Bedrohung nationaler Identität, der von einem Mechanismus der Inklusion und Exklusion – das vermeintlich homogene „Wir“ gegen die ebenfalls homogen dargestellten „Anderen“ – beherrscht wird (Huysmans 2006). Im Kontext der Securitization-Theorie lässt sich somit davon ausgehen, dass auch Nationen und ihre Identitäten konstruiert sind (Wæver 1998). Die Konstruktion dieser Bedrohung unterstützen sprachliche Strategien wie Metaphern (Flut, Invasion) sowie die wiederum konstruierte Verbindung des Themas der Immigration mit anderen Ängsten der Bevölkerung und damit auch das Heranziehen von ImmigrantInnen als Sündenböcke. In Bezug auf das zweite Spannungsverhältnis wird zunächst vorgestellt, wie die fortschreitende Europäische Integration – die der Dynamik der Fragmentierung entgegengesetzt ist – das Verhältnis zwischen Staat und Nation verändert, indem die Mitgliedsstaaten einige Kompetenzen an die supranationale Ebene abgeben und die Nationen somit ungeschützter, aber auch uneingeschränkter werden (Buzan 1993). In einem zweiten Schritt wird erläutert, wie Wæver und Kelstrup (1993) bezüglich Nationen zwischen kultureller und politischer Identität unterscheiden. Die Idealtypen sind hier die organisch oder ethnisch genannte Nation einerseits und die republikanisch oder bürgerlich genannte Nation andererseits, wobei Nationen in der Realität beide Elemente in unterschiedlichen Gewichtungen enthalten. Schließlich wird vorgestellt, wie Wæver und Kelstrup (1993) die Europäische Integration in der Zukunft sehen. Die Entstehung eines europäischen Nationalstaates mit kultureller Identität auf EU-Ebene ist für sie unmöglich, weshalb die EU eine starke politische Konstruktion sein soll, während kulturelle Identitäten auf nationaler und auch regionaler Ebene verbleiben. Daraus ergeben sich zwei Szenarien: Entweder reagieren sich bedroht fühlende Nationen mit nicht-staatlichen Mitteln und kultureller Selbstverteidigung, was eine politische Identität auf europäischer Ebene ermöglichen und Integration fördern würde, oder sie greifen auf staatliche Lösungen und klassisches nationalstaatliches Denken zurück, was einer Fragmentierung gleichkommen würde.

Der empirische Teil der Arbeit untersucht mithilfe der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) eine Rede von Marine Le Pen vom Front National und eine Rede von Heinz-Christian Strache von der Freiheitlichen Partei Österreichs. Beide Reden stammen aus dem Jahr 2015, dem zahlenmäßigen Höhepunkt der Immigration in die EU (UNHCR), und in beiden wird Immigration als existenzielle Gefahr dargestellt. Die Hauptkategorien der Analyse sind, entsprechend der Fragestellung und dem Theorieteil, Immigration, Identität und Europäische Integration, aus denen Unterkategorien erstellt werden. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Beiden untersuchte Reden arbeiten mit typischen sprachlichen Techniken der Versicherheitlichung, wie Metaphern oder Zahlenbeispielen. Zudem liegt beiden Reden eine vorwiegend ethnisch-kulturelle Konzeption nationaler Identität zugrunde. Die Identitätskonstruktion Le Pens beruht hauptsächlich auf der Abstammung vom französischen Volk, jene Straches vor allem auf der christlichen Religion verbunden mit der österreichischen Kultur. Was das Verhältnis von Nation und Staat angeht, vertritt Le Pen die Auffassung, dass das von ihr konstruierte französische Volk ein Recht auf „seinen“ Staat Frankreich hat. Die EU hat in dieser Konzeption keinen Platz; die Bekämpfung der wahrgenommenen Bedrohung durch Immigration soll auf politische Weise seitens des französischen Staates erfolgen. Strache lehnt die EU in seiner Rede nicht grundsätzlich ab, nimmt jedoch das wahrgenommene Scheitern der Union im Bereich der Immigration zum Anlass, die Verantwortung des österreichischen Staates für seine Bevölkerung zu unterstreichen und entsprechende Schutzmaßnahmen zu fordern. Somit begibt sich in beiden Darstellungen die societal security in den Bereich der political security, also die Nation unter den Schutz des Staates. Dies entspricht eindeutig dem Fragmentierungs-Szenario nach dem Modell von Wæver und Kelstrup, da sowohl die politische als auch die kulturelle Identität auf der nationalen Ebene platziert werden. Für den Fall, dass die von Le Pen und Strache geforderten Maßnahmen realisiert werden, muss also von einem Integrationsrückschritt gesprochen werden.