Bachelorarbeit, Fachbereich Musik- und bewegungsorientierte Soziale Arbeit, 112 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Nur wenige Themen werden sowohl politisch als auch gesellschaftlich so breit diskutiert wie das Thema der Nachhaltigkeit. Diverse internationale Dokumente der Vereinten Nationen beschäftigen sich mit dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung und somit mit der Konstitution einer gerechten Welt und indirekt mit der Frage des „guten Lebens“ für alle Menschen –heute und in Zukunft. Bildung bekommt in diesen Diskussionen besondere Aufmerksamkeit und wird als Schlüsselfaktor benannt. Seit 2015 steht die Agenda 30 mit ihren 17 Sustainable Development Goals (SDGs) im Zentrum internationaler Anstrengungen. Da die Erreichung der formulierten Ziele bis 2030 bisher jedoch utopisch scheint, wird seit 2019 von den Vereinten Nationen ein „transformativer Wandel“ gefordert (vgl. Umweltprogramm der Vereinten Nationen 2019).
Auch in der Kunst, Kulturpolitik und Kulturellen Bildung wird das Thema der Nachhaltigkeit bereits seit über 20 Jahren diskutiert und in enger Verknüpfung dazu kulturelle Teilhabe für alle angestrebt. Wie genau eine nachhaltige und teilhabeorientierte Kulturelle Bildung in der praktischen Umsetzung jedoch aussieht, bleibt in der Literatur oftmals ungenau. Daher ist es das Ziel dieser Arbeit, die beiden Begriffe Nachhaltigkeit und kulturelle Teilhabe für die Kulturelle Bildung zu konkretisieren und Konsequenzen für die Umsetzung kultureller Kinder- und Jugendbildungsprojekte abzuleiten. Die Konkretisierung erfolgt durch eine Analyse des Capability Approach nach Amartya Sen und Martha Nussbaum, der sich ebenfalls mit dem „guten Leben“ und Gerechtigkeit auseinandersetzt. Die Forschungsfrage lautet: Welche Prinzipien machen eine nachhaltige Kulturelle Bildung im Sinne des Capability Approach aus und wie können Projekte der kulturellen Kinder- und Jugendbildung diesen entsprechend handeln?
Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden im Rahmen einer Literaturanalyse alle zentralen Begrifflichkeiten beleuchtet und der Capability Approach untersucht. In Orientierung an angewandter Ethik werden anschließend Prinzipien abgeleitet und theoretisch und praktisch auf die Kulturelle Bildung übersetzt.
Im Gegensatz zu anderen wohlfahrtsökonomischen Modellen rückt der Capability Approach nicht den Endzustand, d.h. das realisierte Leben des*der Einzelnen in den Fokus, sondern die tatsächlichen Freiheiten bzw. Verwirklichungschancen, die ein Mensch hat, das Leben zu führen, das er wertschätzt. In diesem Verständnis bedeutet Nachhaltigkeit nicht mehr, eine gewisse Lebensweise zu fordern, sondern den einzelnen Menschen zu befähigen, sich in kritischer Auseinandersetzung mit Selbst und Welt eine eigene Auffassung des „guten Lebens“ zu bilden (Autonomie-Prinzip) und nach dieser leben zu können (Agency-Prinzip). Anderen heutigen und zukünftigen Menschen die gleiche substantielle Freiheit zu ermöglichen bzw. zu erhalten (Gleichheits-Prinzip) und seine eigene langfristige substantielle Freiheit dabei nicht einzuschränken (Langfristigkeits-Prinzip), sind hierbei wichtige Parameter, zu denen der Mensch ebenso befähigt werden sollte. Diese vier Prinzipien können als Grundlage einer nachhaltigen Kulturellen Bildung im Sinne des Capability Approach angesehen werden.
Soll ein „transformativer Wandel“ vollzogen werden, ist dieser auf einen Kulturwandel und somit auch auf Bildungskontexte angewiesen, die diesen Kulturwandel fördern. Kulturelle Bildung kann hierbei eine entscheidende Rolle spielen, indem Teilhabebefähigung nicht mehr nur bedeutet, Kindern und Jugendlichen durch die Konfrontation mit Kunst und Kultur die kulturelle Teilhabe zu ermöglichen, sondern ebenso beinhaltet, zu Nicht-Teilhabe zu befähigen. Gleichzeitig sollte nachhaltige Kulturelle Bildung am Bildungskonzept Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) anknüpfen, wenngleich der Fokus darauf liegen muss, Verhaltensänderungen zu ermöglichen, ohne diese an eine konkrete Vorstellung zu knüpfen, welche Werte und Lebensstile sich die Bildenden aneignen sollten.
Diese Arbeit entwirft ein theoretisches Handlungskonzept, das nachhaltige Kulturelle Bildung als „Spielraum“ konzipiert. Dieser „Spielraum“ dient den sich Bildenden sowohl als Ressource und Umwandlungsfaktor wie auch als Erfahrungsraum und Wertedebatte. Für die praktische Umsetzung kultureller Kinder- und Jugendbildungsprojekte bedeutet dies eine zunehmende Abkehr von Top-Down- und die Erarbeitung von Bottom-Up-Ansätzen, eine stärkere multidisziplinäre Ausrichtung im Team und in den Themen sowie Vernetzung. Die Beachtung und Förderung von Individualität und Vielfalt und eine verstärkte Einwirkung auf den öffentlichen Raum, inklusive der Förderung eines non-dualen Kunst- und Kulturverständnisses, sind ebenso wichtige Ansatzpunkte. Weiterhin sollte der Fokus in der Kulturellen Bildung auf Fragen und auf Offenheit für Widersprüchlichkeit und Unsicherheit liegen. Das Ermöglichen von Erfahrungen des Scheiterns des Unglücks kann als konzeptioneller Handlungsimpuls die Gesellschaft und Kultur in Frage stellen und einen Raum der Auseinandersetzung bieten, in dem die Suche nach Wahrheit und Schönheit und somit dem „guten Leben“ im Vordergrund steht. Die Dystopie „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley (Erstauflage 1932) kann hierfür ein konträres Sinnbild werden und das Zitat „claiming the right to be unhappy“ (Huxley 2007) zum tragenden Leitsatz einer nachhaltigen Kulturellen Bildung.
Zusammenfassend argumentiert diese Arbeit für einen Kulturwandel, der sich weg von Funktionalisierung und hin zu substantieller Freiheit bewegt, als Vorbedingung für eine Kultur, die sich ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Nachhaltigkeitsprinzipien verschreibt. Kulturelle Bildung als „Spielraum“ könnte demnach ein Vorgeschmack auf eine solche Gesellschaft und Kultur sein und einer nachhaltigen Entwicklung zum Vorbild werden.
Literatur:
Huxley, Aldous (2007): Brave New World. London: Vintage.
Umweltprogramm der Vereinten Nationen (Hrsg.) (2019): Sechster globaler Umweltbericht. Zusammenfassung für Politikentscheider. Nairobi. Online unter: https://wedocs.unep.org/bitstream/handle/20.500.11822/27652/GEO6SPM_GE…? sequence=17&isAllowed=y (letzter Zugriff am 21.02.2020).