Masterarbeit, Fachbereich Sozialwesen, 111 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Die Grundlage der vorliegenden Arbeit bilden die aktuellen Diskussionen über Bildungszugänge sowie Bildungschancen in der Migrationsgesellschaft. Vor allem Menschen mit Fluchtbiografie, die in ihrem Herkunftsland trotz Hochschulreife kein Studium aufnehmen konnten oder aber ein Studium abbrechen mussten, finden in der Bundesrepublik Deutschland dabei bislang unzureichende Unterstützungsstrukturen beim Hochschulzugang vor. Die vorliegende Arbeit setzt an dieser Stelle an und stellt aus biografietheoretischer Sicht die Frage, wie die Teilhabe an Hochschulbildung für Studierende mit unterschiedlichen Bildungsbiografien ermöglicht werden kann. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Anforderungen und Normalitätsvorstellungen der deutschen Hochschulen nicht selbstverständlich mit den Lebenswelten sowie den biografischen Erfahrungen der Studierenden unterschiedlicher Herkunft korrespondieren.
Mit Hilfe eines rekonstruktiven Zugangs findet diese Forschungsarbeit ihren Ausgangspunkt in den lebensgeschichtlichen Erzählungen von Studierenden mit Fluchterfahrung, die im Wintersemester 2016/17, im Rahmen des „Welcome“ Projektes, das Bachelorstudium der Sozialen Arbeit an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Aachen, begonnen haben. Dabei wurde untersucht welchen Einfluss Erfahrungen von Flucht auf die Gestaltung der Bildungsbiografien nehmen. Die Relevanz dieses Forschungsinteresses ergibt sich in erster Linie aus der lückenhaften wissenschaftlichen Forschungslage zur Bildungssituation von Menschen mit Fluchtbiografie und hier im Speziellen auch die Gruppe der Studierenden mit Fluchterfahrung. Ein Großteil der Studien zum Thema Migration und Bildung bezieht sich auf Daten im Rahmen der Aussiedlerzuwanderung und der Arbeitsmigration. Ferner wird bei einer Mehrheit der Studien die Begrenzung einer „Perspektive auf“ gegenüber einer „Perspektive von“ Geflüchteten deutlich, was Studien aus Sicht der Betroffenen selbst dringend erforderlich macht. Des Weiteren wird deutlich, dass die wenigen fluchtspezifischen Forschungsarbeiten den Hochschulzu-gang kaum berücksichtigen und sich vielmehr der schulischen Bildung bzw. dem Zugang zum Arbeitsmarkt widmen.
Da der Einfluss von Fluchterfahrungen auf die Bildungsbiografie noch weitgehend unerforscht ist, wurde eine offene narrative Interviewmethode gewählt. Insgesamt wurden acht Interviews mit geflüchteten Studierenden durchgeführt und angelehnt an die qualitative Inhaltsanalyse von Mayring ausgewertet. Hierdurch konnten die verbal übermittelten Bildungswege rekonstruiert werden. Dem Forschungsinteresse entsprechend galt es anschließend anhand der Fallrekonstruktionen Möglichkeiten der Einflussnahme von Fluchterfahrungen auf die Bildungsbiografien herauszufiltern. In den untersuchten Bildungsbiografien ließen sich dabei zwar gemeinsame Erfahrungen der Interviewten erkennen, ebenso zeigte sich jedoch ein überaus heterogenes Bild der Lebensverläufe. Fallübergreifend wurden insgesamt fünf Formen der Einflussnahme von Fluchterfahrungen auf die Bildungsbiografie von Studierenden identifiziert:
1. Fluchterfahrungen und die damit verbundenen restriktiven asylrechtlichen Rahmenbedingungen sowie die sprachlichen Barrieren schränken Handlungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten ein.
2. Fluchterfahrungen verzögern die angestrebte Bildungsbiografie. Einerseits verhindern Fluchterfahrungen das Anknüpfen an vorherige Bildungserfahrungen, andererseits begrenzen sie die Bildungsmöglichkeiten für ebendiese Menschen und zwingen zu Alternativen, wie beispielsweise geringfügige Beschäftigungen. Letztlich werden die in Deutschland fortgesetzten Bildungswege nicht selten durch traumatische Belastungen zusätzlich erschwert.
3. Gleichzeitig verstärken Fluchterfahrungen, und der damit verbunden Bruch und Neubeginn der Biografie, die Relevanz von Bildung. Die Studierenden machen die Erfahrung, dass ohne die entsprechenden Bildungsnachweise in Deutschland keine gesellschaftliche Teilhabe möglich ist.
4. Die Zukunftsplanung der Interviewten wird durch fluchtbedingte Beschränkung von Handlungsfähigkeit und Bildungsmöglichkeiten erschwert. Gleichzeitig können Fluchterfahrungen und die damit einhergehende Überwindung von Hindernissen zu einem optimistischen Blick in die Zukunft führen.
5. Letztlich führen Fluchterfahrungen zu persönlichen Erfahrungen und Veränderungen wie der Verlagerung von Prioritäten, Erfahrungen von Ablehnung und Rassismus sowie dem allgemeinen Gefühl eines sicheren und besseren Lebens.
Die Ergebnisse machen deutlich, dass kategoriale Annahmen über die Bildungswege von Studierenden mit Fluchterfahrung den heterogenen Biografien der Individuen nicht gerecht werden. Mit Blick auf die gewonnenen Erkenntnisse gilt es künftig den Handlungsraum und die Teilhabemöglichkeiten an der deutschen Gesellschaft für Menschen mit Fluchtbiografie zu erweitern, sowie speziell im Rahmen der hochschulischen Praxis, tradierte Strukturen der Bildungseinrichtungen zu überdenken und die Hochschuldidaktik anhand der Vielfalt von Bildungsbiografien und Ressourcen der Studierenden weiterzuentwickeln.