Masterarbeit, Fachbereich Agrarwissenschaft, Ökotrophologie und Umweltmanagement, 104 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Unter Kindern und Jugendlichen lässt sich eine zunehmende Entfremdung gegenüber Nahrung und deren Ursprung beobachten. Veränderte Lebensverhältnisse tragen zu einem distanzierten Umweltverständnis bei und reduzieren das Interesse an natürlichen Zusammenhängen. Gleichzeitig nehmen globale Ungleichheitsbeziehungen und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen weiter zu. Auch gesundheitliche Folgen äußern sich bereits im Kindes- und Jugendalter in einer weltweiten, rapiden Zunahme von Übergewicht und Fettleibigkeit. Schulgärten als Lernorte nachhaltiger Ernährungsbildung besitzen das Potential, diesen Herausforderungen entgegenwirken, zumal sie auf praxisorientiertem Verstehen beruhen und die Möglichkeit bieten, in jungen Jahren Ernährungsvorlieben zu prägen.
Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich die vorliegende Studie mit den Gärten einer deutschen und einer kolumbianischen Schule. Aufgrund der qualitativen Forschungsmethode liegt der Fokus auf der Freien Waldorfschule Wetterau (FWS Wetterau) in Deutschland. Exemplarisch wird ein weiteres Schulgarten-Konzept der Stitung Salva Terra in Kolumbien vorgestellt. Ziel der Studie ist es, die Durchführungspraxis der Projekte im Kontext einer nachhaltigen Ernährungsbildung zu erschließen und die Einstellungen der teilnehmenden Schüler*innen in Bezug auf die Schulgartenarbeit sowie ihr persönliches Ernährungs- und Umweltverhalten darzulegen.
Zur Erfassung der Ergebnisse werden acht qualitative Interviews mit Kindern zwischen dreizehn und vierzehn Jahren durchgeführt, die an der deutschen Schule Schulgartenunterricht erhalten. Die Beurteilung über den Erwerb nachhaltiger Ernährungskompetenzen orientiert sich dabei an den Grundsätzen einer nachhaltigen Ernährung nach Koerber und Leitzmann. Für das Schulgartenkonzept von Salva Terra wird die Erhebungsmethode der schriftlichen Befragung angewandt. An der Schule La Aguada werden standardisierten Fragebögen mit teilweise offenen Fragestellungen verteilt und acht davon detailliert ausgewertet. Die teilnehmenden Schüler*innen befinden sich in einem Alter zwischen neun und fünfzehn Jahren. Außerdem wird zu jedem Projekt eine Expertenstimme (Gartenbaulehrerin der FWS Wetterau, Projektkoordinator von Salva Terra) befragt, um Organisation und Motive des jeweiligen Schulgartens herauszuarbeiten.
Je nach Entwicklungsstand der Länder sehen die Schüler*innen unterschiedliche Vorzüge in ihren Schulgärten. In La Agauda wird der Garten als wichtige Voraussetzung einer ausgewogenen Schulverpflegung angesehen, auch wenn die Ernte dafür noch nicht ganz ausreicht. Gleichzeitig dient er der Demonstration nachhaltiger Anbaumethoden. Zielgruppe sind hier insbesondere die Eltern. Von den Kindern in La Aguada wird die Wertschöpfung aus den geernteten Produkten nicht – zumindest im schulischen Umfeld – konsequent nachvollzogen. So besitzen die Befragten eine umfangreiche Kenntnis über den Pflanzenbestand des Gartens, jedoch fällt ihr Wissen über die Zubereitungsmöglichkeiten der Ernte gering aus. Demgegenüber integriert die FWS Wetterau einen Teil der Verarbeitung in den Unterricht. Die Jugendlichen dieser Schule nehmen den Schulgarten weniger als „wichtiges“, sondern vielmehr als abwechslungsreiches Tätigkeitsfeld wahr, das dabei helfe „sich neu [zu] sortieren“. Weiterhin wird in beiden Projekten deutlich, dass die unmittelbare Nähe des Gartens zum Schulgebäude, sein freier Zugang sowie regelmäßig verankerte Unterrichtstermine das Gefühl von Selbstwirksamkeit seitens der Schülerschaft fördern. Die Auswirkungen eigener Handlungsabläufe werden überprüfbar und die verbundene Identifizierung mit dem Projekt kann zu mehr Eigenverantwortung führen. Allerdings wird ebenfalls deutlich, dass manche Schulgartenerfahrung nicht mit dem persönlichen Ernährungsalltag verknüpft wird und sich in einer Einstellungs-Verhaltenslücke äußert: Die Lieblingsessen vieler Schüler*innen bestehen aus Fast-Food-Produkten, gleichzeitig ist ihnen eine Ernährung „ohne Chemie“ wichtig. Die gesamte Stichprobe an der FWS Wetterau sieht die Natur durch heutige Lebensweisen stark in Gefahr, im unmittelbaren Umfeld nehmen sie keine negativen Konsequenzen war. In La Aguada wird einer intakten Umwelt die höchste Priorität zugewiesen. Umweltschonende Eigenschaften bei Lebensmitteln scheint den Schüler*innen jedoch zweitrangig.
Als äußerst beliebte Tätigkeiten an der FWS Wetterau werden neben dem „Ernten“, das „Kochen“ bzw. die Verarbeitung der geernteten Lebensmittel beschrieben. Auch in La Aguada erinnern sich die Kinder an diejenigen regionalen Nahrungspflanzen am besten, die sie am häufigsten aus dem Schulgarten mit nachhause nehmen. Die Verwertung von regionalen, selbst angebauten Lebensmitteln rückt diese vermehrt ins Bewusstsein und trägt dazu bei, Gemüse in Form von bisher unbekannten Zubereitungsvarianten schmecken zu lernen. Zudem geben Studien an, dass das Essverhalten von Kindern besonders durch zeitnahe Konsequenzen wie Genuss und Geschmack bestimmt wird. Zeitferne und unbestimmte Folgen wie der Klimawandel spielen eine untergeordnete Rolle. So sollte ein besonderes Augenmerk auf den Verzehr der geernteten Lebensmittel gelegt werden. Ausgehend von gesteigerten Partizipationsmöglichkeiten und einer handlungsorientierten Wissensvermittlung bietet dieser Wertschöpfungsschritt wichtige Voraussetzungen für nachhaltiges Lernen. Darüber hinaus wird ersichtlich, dass einige Befragten der FWS Wetterau die gewonnenen Produkte aus dem Schulgarten als ungewöhnlicher im Aussehen, aber deutlich schmackhafter beschreiben als Lebensmittel aus dem Supermarkt. So kann Schulgartenarbeit zu einer größeren Formenvielfalt pflanzlicher Nahrungsmittel und einer höheren Akzeptanz gegenüber „ugly food“ beitragen.
„Die denken ja, Essen kommt aus dem Supermarkt. Ja hier lernt man halt [...] wo das Essen herkommt, wie viel Arbeit damit verbunden ist.“
Diese Äußerung einer Schülerin spiegelt die Eigenschaft eines Schulgartens wider, als authentischer Lernort mit realen Herausforderungen zu fungieren. Die Schüler*innen erleben sich darin kompetent und handlungswirksam und lassen sich auf die Auseinandersetzung mit der Herkunft eines Lebensmittels ein. Ein Verständnis über den Einfluss des eigenen Ernährungsstils auf globale Zusammenhänge ist ihnen dabei nicht konkret bewusst. Eine vertiefende Reflexion und die Verknüpfung der gemachten Schulgartenerfahrungen in weiteren Unterrichtsfächern könnten womöglich zu einem gesteigerten Verständnis beitragen.