Die Wahrnehmung der DDR aus der Perspektive chilenischer Exilant*innen nach 1973

Autor: Müssemann, Hannah
Jahr: 2019

Masterarbeit, Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften, 167 Seiten, dt.

Zusammenfassung:

In der ohnehin geringen Forschung zum Exil in ehemaligen Ostblockstaaten wird selten auf individuelle Lebenserfahrungen eingegangen. Die DDR als Exilland für politisch Verfolgte Chilen*innen wurde bisher kaum untersucht. Durch die Regierung Salvador Allendes und die Ideologie des Sozialismus standen sich Chile und die DDR politisch nah. Nach dem Militärputsch durch Augusto Pinochet in Chile 1973 war die DDR eines der ersten Länder, welche jegliche diplomatischen Beziehungen zu Chile abbrach und damit die Diktatur in Chile aufs schärfste verurteilte. Die DDR gewährte daraufhin ca. 2000 (ausgewählten) Chilen*innen politisches Asyl. Das mag auf den ersten Blick verwundern, galt die DDR doch wegen der Berliner Mauer und der stark eingeschränkten Reise- und Meinungsfreiheit als Land der Restriktionen. Die Chilen*innen hatten dadurch sowohl eine interne als auch eine externe Perspektive auf die DDR: Intern, da sie seit der Ankunft in der DDR ein Teil der ostdeutschen Gesellschaft wurden und extern, da sie als Ausländer Teil des sonst „geschlossenen“ Systems der DDR wurden.

Anhand des chilenischen Beispiels wurde in der Forschungsarbeit untersucht, wie ein Land, aus dem es unzählige Fluchtversuche aus dem geschlossenen sozialistischen System in den benachbarten kapitalistischen Westen gab, zum gesuchten Einreiseland für politische Flüchtlinge wurde. Die Masterarbeit leistet einen Beitrag zur Forschung über das chilenische Exil in einem Ostblockstaat und schließt an die Forschungslücke an, die daraus resultiert, dass bisher kaum auf individuelle Erfahrungen aus der chilenischen Perspektive eingegangen wurde.

Mithilfe halbstrukturierter Interviews wurde in der Forschungsarbeit Individuen explizit die Möglichkeit gegeben, retrospektiv von ihren positiven und negativen Erfahrungen im Exil in der DDR zu berichten. Individuelle Erfahrungen und subjektive Sinngebungen standen dabei im Vordergrund, sodass kein Anspruch auf Repräsentativität erhoben wurde. In den Interviews ging es insbesondere um die individuelle Wahrnehmung im Sinne eines Meinungsbildes der DDR als sozialistische Gesellschaft und um vorherrschende Selbst- und Fremdbilder der Chileninnen im Exilland. Es wurden drei Chileninnen befragt, die seit dem Exil nach 1973 in Berlin und Umgebung leben. Trotz der Systemwechsel, die zeitgleich in Chile (demokratische Wahlen 1989 und Ende der Militärdiktatur 1990) und in der DDR (Mauerfall 1989 und Ende der DDR mit der Wiedervereinigung 1990) stattfanden, sind die Befragten nicht in ihr „Heimatland“ zurückgekehrt.

Die Forschungsarbeit gibt zudem Denkanstöße über eine bis dato wenig beleuchtete Untersuchungsgruppe: Frauen im Exil. Gilt der öffentliche politische Raum doch kognitiv hauptsächlich als den Männern vorbehalten, bleiben Frauen im privaten Raum eher „ungesehen“ und in der Folge in der Exil- und Migrationsforschung häufig unbeachtet, sodass die situationsbedingte Befragung von Chileninnen eine Art Präzedenzfall schafft.

Durch die geteilte politische Ideologie des Sozialismus mit dem Ankunftsland war davon auszugehen, dass die Befragten die DDR als Land der Emanzipation und nicht als Land der Restriktionen wahrnehmen würden. Das politische System im Exilland war die Fortführung des Systems, das Salvador Allende und die Chilen*innen für Chile wollten. Außerdem war die DDR ein Ort der Sicherheit, Selbstbestimmung und Integration in die ostdeutsche Gesellschaft für die Geflüchteten. Die DDR kümmerte sich nach der Ankunft um den direkten Zugang zur Bildung, zu Deutschkursen und um Wohnungen für die Chilen*innen. Die Vermutung war, dass positive Erfahrungen in der Wahrnehmung der Exilchileninnen überwiegen könnten, wohingegen der Mauerfall einen erneuten ungewollten Übergang zum Neoliberalismus bedeuten würde. Viele der Annahmen wurden im Rahmen der Auswertung der Interviews bestätigt.

Insgesamt fiel auf, dass die drei Chileninnen, die seit Beginn der chilenischen Militärdiktatur in Deutschland leben, eine tiefe Loyalität gegenüber der DDR verspüren. Sie beurteilten sie meist positiv als „Diktatur des Proletariats“, was auf unterschiedliche Bedeutungsebenen des Begriffs „Diktatur“ schließen lässt. Solche Begriffe benötigen eine Reflexion aus dem jeweiligen Lebenskontext heraus, um sich der Alltagswirklichkeit im Exil anzunähern. Auf negative Erfahrungen wie Rassismus oder Ungleichheit gingen sie wenig ein und betonten umso mehr die faszinierende Solidarität mit Chile und die positiven Erfahrungen mit den DDR-Bürgern. Besonders hervorzuheben ist die Rolle der Frau in der DDR. Ein Zusammenhang zwischen Emanzipation und Exil in einer sozialistischen Gesellschaft zeigte sich durch die Erwerbstätigkeit der Frauen und die Wandlung patriarchalisch geformter Geschlechterrollen, die in der chilenischen Gesellschaft fest verankert waren und durch das Leben in der DDR aufgebrochen wurden.

Abschließend lässt sich sagen, dass es im Rahmen der Forschungsarbeit teilweise schwer war, ein umfassendes Bild über individuelle Wahrnehmungen der DDR herauszuarbeiten. Dies mag daran liegen, dass durch die Retroperspektive und den lange zurückliegenden Zeitraum Erfahrungen und Erinnerungen verschwimmen können. Insgesamt hat die Forschungsarbeit versucht, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie durch individuelle Erfahrungen die DDR als Exilland analysiert werden kann. Dabei ging es nicht um eine euphemistische Darstellung der DDR, sondern um die Analyse von individuellen Meinungen einer bisher nicht beachteten Gruppe: Exilchileninnen in der DDR. Die Forschung eröffnet einen anderen Blick auf die DDR, indem sie als Ankunftsland für Geflüchtete kritisch und umfassend analysiert wird. Dadurch wurde ein Beitrag sowohl zur chilenischen als auch zur ostdeutschen Exilforschung geleistet.

Nichtsdestotrotz sollte dieses Bestreben erst der Anfang sein, da auch anderen Individuen eine Stimme in der Forschung gegeben werden sollte, von ihren individuellen Exilerfahrungen in der DDR zu berichten.