Bachelorarbeit, Fachbereich Politikwissenschaft, 55 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
In Deutschland leben derzeit zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime, was einem Anteil von 5,4-5,7% an der deutschen Bevölkerung entspricht. Der Islam bildet nach der Katholischen und Evangelischen Kirche mittlerweile die drittgrößte Religionsgemeinschaft in Deutschland. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass Muslime eine stärkere Anerkennung ihrer Religion und religiösen Praktiken fordern, was das bisherige Verhältnis zwischen Staat und Religion vor neue Herausforderungen stellt. Eine maßgebliche Forderung der Muslime ist die Einführung von islamischem Religionsunterricht (IRU) analog zu den Privilegien, die den etablierten Religionsgemeinschaften zuteilwerden. Die Bachelorarbeit „Islamischer Religionsunterricht in Deutschland – zwischen ordentlichem Lehrfach, Dauerexperiment und Absenz“ befasst sich mit dieser Forderung und stellt dabei folgende Fragen:
F1: Welche Formen von IRU gibt es in Deutschland und wie unterscheiden sich diese?
F2: Wie lässt sich die Varianz der Bundesländer hinsichtlich der Modelle von IRU erklären?
Die Relevanz dieser Fragen ist einerseits gesellschaftlich in der zunehmenden Präsenz des Islams in der deutschen Gesellschaft begründet. Anderseits macht die Aktualität der Thematik, die Schnittstelle zu weiteren wissenschaftlichen Disziplinen wie der Pädagogik, der Rechts- und Religionswissenschaft sowie das Fehlen umfassender Analysen die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit IRU in Deutschland erforderlich.
In die Analyse werden alle Bundesländer mit Ausnahme von Bremen und Berlin aufgrund deren Sonderregelung zum Religionsunterricht ,der ‘Bremer Klausel’ (Art. 141 GG), einbezogen. Zur Beantwortung der ersten Frage (F1) werden die Bundesländer zunächst in Hinblick auf die Existenz einer Form von IRU und anschließend hinsichtlich des rechtlichen Status des jeweiligen Modells von
IRU, der islamischen Kooperationspartner und zuletzt der Unterrichtsinhalte untersucht. Die zweite Forschungsfrage (F2), die nach Erklärungsfaktoren für die Varianz von IRU in den deutschen Ländern fragt, wird mit Hilfe des theoretischen Konzepts der Opportunity Structures beantwortet. Dieser Theoriestrang kann zur Erklärung der Varianz von IRU herangezogen werden, da die bisherige Forschung zeigen konnte, dass Gelegenheitsstrukturen die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme von Religionsgemeinschaften determinieren. Außerdem ermöglicht dieser Ansatz die Integration verschiedener Erklärungsfaktoren und qualifiziert sich besonders für vergleichende Arbeiten. Als Komponenten der Opportunity Structures und unabhängige Variablen werden in dieser Arbeit die Anteile der muslimischen Bevölkerung in den Ländern, die historisch gewachsene Staat-Kirche Beziehung im Bildungssektor, die Staat-Islam Beziehung, Parteienstärke und Religiosität sowie gesellschaftliche Einstellungen zum Islam und zu Muslimen herangezogen. Aus der Theorie heraus wurden folgende Hypothesen abgeleitet:
H1: Je mehr Muslime in einem Bundesland leben, desto eher wird ein Angebot an IRU bereitgestellt.
H2: Eine enge Staat-Kirche Beziehung im Bildungssektor erschwert die Etablierung eines Angebots an IRU in dem jeweiligen Bundesland.
H3: Bundesländer mit einer engen Staat-Islam Beziehung stellen eher ein Angebot an IRU bereit.
H4: Je größer die Regierungsmacht christdemokratischer Parteien und je höher die Religiosität der Bevölkerung in einem Bundesland, desto schwieriger ist die Einrichtung einer Form von IRU in diesem Land.
H5: Ist die Islamophobie in einem Bundesland schwach ausgeprägt und die Befürwortung von IRU hoch, so wird in diesem Land eher ein Angebot an IRU geschaffen.
Die abhängige Variable IRU wird auf deutsche Grundschulen beschränkt, um eine bessere Vergleichbarkeit der Bundesländer zu gewährleisten. Anhand deskriptiver Statistiken und bivariater Analysen werden die Erklärungsfaktoren für die Varianz von IRU analysiert. Dafür wurde aus Primär- und Sekundärdaten ein Datensatz zusammengestellt, der so zuvor noch nicht zur Verfügung stand.
Die Arbeit konnte aufzeigen, dass Deutschland bei der Einrichtung von IRU keine einheitliche Strategie verfolgt, sodass zwischen vier verschiedenen Modellen von IRU differenziert werden kann: (1) IRU als ordentliches Lehrfach, (2) ein bekenntnisorientiertes Modellprojekt IRU, (3) Modellprojekte in neutraler Islamkunde und (4) keinem Angebot von IRU. Bei den untersuchten Erklärungsfaktoren für die Varianz von IRU in Deutschland wurden mit Ausnahme der Staat-Islam Beziehung bei allen Variablen signifikante Ergebnisse erzielt. Unterschiedliche Gelegenheitsstrukturen der Muslime können demnach die Existenz eines bestimmten Modells von IRU in einem Bundesland erklären. Die stärksten Effekte in Bezug auf die Existenz eines Angebots an IRU oder dessen Absenz können bei den gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber Muslimen und den Anteilen der muslimischen Bevölkerung ausgemacht werden. Politische Faktoren haben auch einen bedeutenden Einfluss auf die Existenz einer Form von IRU in einem Bundesland, jedoch in die entgegengesetzte Richtung als eingangs in der Hypothese postuliert. Die Analyse der Unterschiede innerhalb der verschiedenen Angebote von IRU konnte lediglich Tendenzen bei den institutionellen Faktoren, aber keine signifikanten Unterschiede aufzeigen.