Bachelorarbeit, Fachbereich Sozial- und Kulturanthropologie, 65 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Anhand einer Auswahl von Bundestagsdebatten aus dem Jahr 2015 nimmt Lena Sophia Fischer in ihrer Bachelorarbeit eine Analyse der Narrative und Wahrheitsansprüche im politischen Diskurs um „Schlepperei“ im Bundestag vor. Mit der Methode der kritischen Diskursanalyse nach Jäger werden die diskursive Konstruktion verschiedener Akteur*innen, Problemdefinitionen und Lösungsansätze im Zusammenhang mit der im relevanten Zeitraum angestrebten Legitimierung bzw. Delegitimierung von Militäreinsätzen auf dem Mittelmeer untersucht. Fischer stellt die Hypothese auf, dass eine enge Verbindung zwischen der Konstruktion von Migration, Schlepperwesen und des europäischen Selbstverständnisses und der Legitimierung von Militäreinsätzen besteht.
Die Arbeit umfasst fünf Kapitel, im ersten werden grundsätzliche Fragen aufgeworfen, die Vorgehensweise beschrieben und eine aktivistisch-politische Verortung offengelegt. Im zweiten Kapitel werden die theoretischen Grundlagen der Arbeit, insbesondere die enge Verflechtung von Macht und Wissen nach Foucault und der offene Charakter der Methodik im Sinne einer „Werkzeugkiste“, erläutert und die Auswahl des Datenkorpus dargelegt. Letzteren bilden Dokumente des Bundestages, da dieser eine Diskursebene in der deutschen politischen Landschaft darstellt, in der politische Diskurse gebündelt geführt, machtvolle Entscheidungen getroffen und öffentlich legitimiert werden. Darauf folgt im dritten Kapitel eine inhaltliche Kontextualisierung, die auf das zunehmend restriktive und militarisierte europäische Grenzregime Bezug nimmt, das sich durch Abschottungsmaßnahmen charakterisiert, welche von einer Rhetorik der humanitären Seenotrettung begleitet und legitimiert werden. In der empirischen Datenanalyse wird nach der Erläuterung der Auswahl zweier Debatten mit je vier Redebeiträgen vierer Parteien (CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/die Grünen, die Linke) zunächst die diskursive Konstruktion der Akteur*innen „Schlepper“, „Migrant*in“ und „Europa“ analysiert. Dabei fällt auf, dass die Konstruktion und Bewertung der Akteur*innen über die Parteigrenzen hinweg ähnlich erfolgt: Schlepper als negativ und kriminell, Migrant*innen als passive Opfer, Europa als Wertegemeinschaft, das in der Verantwortung steht. Auch bei der Problemdefinition gibt es große Parallelen: Der humanitäre Aspekt mit der Forderung, Massensterben zu verhindern, wird im Vergleich zu politischen, sozialen und ökonomischen Zusammenhängen stark hervorgehoben. Bei den Lösungsstrategien jedoch treten unterschiedliche Ansätze zutage: Während die Regierungsparteien eine Dilemmasituation im Zusammenhang von Schlepperei und Seenotrettung konstruierten, um ein militärisches Vorgehen zu legitimieren, lehnten die Oppositionsparteien das militärische Vorgehen unter Bezugnahme auf mangelnde Seenotrettung ab. Stattdessen plädierten sie für den Ausbau legaler Einreisewege als effizientere Form der Schlepperbekämpfung. Das Verhältnis von Seenotrettung und Schlepperbekämpfung und die Kritik an militärischer Schlepperbekämpfung als Symptombekämpfung, die von der Forderung nach legalen Wegen flankiert wurde, stellten sich als zentral für die Legitimierung bzw. Delegitimierung der Militärmission heraus. Zur Legitimierung der Militärmission wurde der Diskursstrang um Schlepperei darüber hinaus an die Diskursstränge Asylmissbrauch und unkontrollierte Zuwanderung und somit an die Vorstellung von Migration als Bedrohungsszenario angeknüpft. Auch andere Narrative wie europäische Solidarität oder Willkommenskultur wurden von beiden Seiten genutzt, sowohl um das bedrohliche Bild von Migration zu stärken und somit die Militärmission zu stützen, als auch um Kritik an der europäischen Grenz-und Migrationspolitik zu üben.
Im Fazit kommt Fischer unter anderem zu dem Schluss, dass die Forderung nach legalen Wegen zwar zum Zeitpunkt der Analyse noch nicht an nennenswerte politische Entscheidungen gekoppelt war, aber als begrüßenswerter Ansatz zu beobachten bleibt, da er zumindest sagbares Wissen im Kontext von Grenzpolitik darstellte. Was hingegen zum Zeitpunkt der Analyse nicht sagbar schien, ist eine breitere Kontextualisierung des Problems in strukturelle globale Zusammenhänge über eine humanitäre Logik hinaus und ein Verständnis von Migration als komplexem sozialen Prozess, in dem Migrant*innen aktive Entscheidungen diskursiv zugestanden werden.