Masterarbeit, Fachbereich Anglistik und Amerikanistik, 147 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Als historische, gegenwärtige und zukünftige Realität, die auch die kommenden Jahrzehnte in besonderem Maße bestimmen wird, ist es notwendig, dass Schülerinnen und Schüler (SuS) ein komplexes, vielschichtiges und multiperspektives Verständnis globaler (Zwangs)migration entwickeln, das über die Gegenwart hinaus auch in die Vergangenheit und Zukunft reicht. In gesellschaftlichen Diskursen nehmen wir jedoch aktuell vielmals verklärte Erzählungen von homogenen Nationen, dehumanisierende Sprache gegenüber Menschen auf der Flucht sowie eine Fokussierung auf kurzfristige Symptombehandlung anstatt langfristiger Ursachenbekämpfung wahr. Wenn wir allerdings in Zukunft tatsächlich die Ursachen von (Zwangs)migration angehen wollen und höchste gemeinsame demokratische Werte wie die Würde aller Menschen weiterhin wahren wollen, gilt es, die SuS genau hierzu zu befähigen. Daraus ergibt sich ein klarer Bildungsauftrag für die Schulen im Allgemeinen und für den englischen Literatur- und Kulturunterricht im Besonderen. Denn dieser kann durch die Lektüre autobiographischer Fluchtnarrative die inter- und transkulturellen Kompetenzen der SuS im Umgang mit Fluchtursachen, -erfahrungen und -auswirkungen besonders entwickeln. Wie genau das geschehen kann, sucht die Arbeit zu ergründen.
Das Ziel der Arbeit ergibt sich aus bislang bestehenden Leerstellen, unbeantworteten Fragen sowie aktuellen gesellschaftlichen Trends. Leerstellen bestehen unter anderem in der Fremdsprachendidaktik zu diesem Thema im Allgemeinen sowie bezüglich der Unterstützung von Lehrkräften im Umgang mit sensiblen und komplexen Themen. Die größte Leerstelle im gesellschaftlichen Diskurs stellen die vielmals fehlenden Stimmen der Betroffenen dar, die fliehen mussten und deren Stimmen zu oft kein Gehör finden. Wie man mit dieser ethisch prekären Situation im Unterricht sensibel und verantwortungsbewusst umgehen kann, bleibt eine bislang unbeantwortete Frage, der sich die Arbeit annimmt und hierfür Strategien und Methoden findet. Mit den Menschen, die in sichere Staaten fliehen, eine andere Sprache lernen und Gehör suchen, nimmt auch die Anzahl autobiographischer Fluchtnarrative zu, die die Erfahrungen der (Zwangs)migration aus ihrer Perspektive erzählen. Trotz dieses gesellschaftlichen Trends gibt es bislang kaum wissenschaftliche und didaktische Auseinandersetzungen mit dieser neuen Gattung. Auch diese Leerstelle will die Arbeit angehen und das didaktische Potenzial sowie Ansätze, Lesarten und Methoden zum Umgang mit diesen aus anderen Fachwissenschaften zusammentragen und für den Literatur- und Kulturunterricht aufbereiten.
Lehrkräfte sollen in der Arbeit Orientierung, zahlreiche Zugänge sowie vielfältige spezifische Lesestrategien und performative, kreative, schüler-, handlungs-, prozess- und produktorientierte Aufgabenformate für die Arbeit mit den SuS finden. In einem ersten Schritt dienen Erfahrungen, Debatten, Konzepte und Lesarten vielfältiger Fachwissenschaften, wie den Refugee and Forced Migration Studies, Postcolonial und den Auto|Biography Studies der Identifikation von interdisziplinären Zugängen durch zentrale Themen und Schlüsselkonzepte. Darauf aufbauend werden hieraus in einem zweiten Schritt Prinzipien und Lesarten für den Umgang im Unterricht abgeleitet sowie mit den Zielen, Prinzipien, Lesarten und Methoden der inter- und transkulturellen Literaturdidaktik verknüpft. In einem dritten Schritt werden diese Prinzipien, Lesarten und Methoden beispielhaft in konkreten Aufgabenstellungen zu einem Fluchtnarrativ praktisch umgesetzt. Immer wieder werden Strategien gesucht, um im Unterricht eurozentrische und essentialisierende Umgangsformen, die Menschen auf der Flucht ihre subjektive Handlungsfähigkeit absprechen sowie ein einseitiges und eindimensionales Verständnis von Flucht vermitteln, zu vermeiden und eine verantwortliche Wahrnehmung der unterschiedlichen Lebensgeschichten und -realitäten zu fördern. Hierzu gehört immer auch die Berücksichtigung (neo-)kolonialer, (neo-)imperialer und globaler Strukturen aus Vergangenheit und Gegenwart als strukturierender Rahmen, den es immer mitzubedenken gilt, wenn wir die Ursachen, Erfahrungen und Auswirkungen von (Zwangs)migration nachvollziehen wollen.
In dem Kapitel „Ethische Fragen“ setzt sich die Arbeit mit der Stimmenlosigkeit der Betroffenen und der ethischen Verantwortung im Unterricht auseinander. Sie rekurriert hierzu einerseits auf Debatten innerhalb der Literaturwissenschaften, die hierfür erste Prinzipien und Methoden entwickelt haben. Sie zeigt auf, wie man den Narrativen als testimony eines Traumas als second-person witness begegnen und die Stimmenlosigkeit im Unterricht bewusst machen kann, um Machtasymmetrien nicht zu reproduzieren. Spearey Olivers Konzept des witnessing beyond recognition dient der Entwicklung von Unterrichtsprinzipien zum ethischen Umgang mit dem Thema und den Menschen. Im Klassenraum als Raum einer ‚infinite response-ability‘ entwickeln die Lernenden die Fähigkeiten, erreichbar und reaktionsfähig zu sein und verantwortlich gegenüber anderen zu agieren, sodass die Folgen des eigenen Handelns reflektiert werden. Eine kontinuierliche Selbstreflexion über den eigenen Umgang mit den (Nicht-)anwesenden stärkt das ethische Bewusstsein der SuS für ihr eigenes Handeln und gegenüber möglichen Risiken wie Exklusion, Objektivierung und Voyeurismus. Hierfür haben sich insbesondere performative Aufgaben sowie Aufgaben, die die Inklusion von alternativen Positionen und Reaktionen (Nicht-)Anwesender, ungehörter Personen oder Figuren in den Texten ermöglichen, als besonders produktiv erwiesen. Performative Aushandlungen und Interpretationen der Texte mittels Inszenierungen erlauben Mehrdeutigkeit, binden die anderen Lernenden und ihre vielfältigen Reaktionen als partizipierendes Publikum mit ein und wirken wiederum auf die Performer zurück. Die Reflexion dieser Austausch- und Wechselbeziehungen erlaubt zugleich die kontinuierliche kritische Auseinandersetzung mit den gewählten Repräsentationsformen im Umgang mit Menschen auf der Flucht, ihren Ursachen und Erfahrungen. Anderseits erörtert die Arbeit, wie Kulturwissenschaftler die Narrative als transkulturelles Konsumprodukt in einem globalen Markt der life writing economy analysieren, um auch hier das Bewusstsein für die Machtasymmetrien zwischen Autoren, Herausgebern und Lesern zu schärfen und Fragen der Inhaberschaft angesichts der Standardisierung des Genres zu ergründen. Durch die Reflexion der eigenen Rolle und Motive als KonsumentInnen, sowie der Analyse der Marketingstrategien entwickeln die SuS u.a. ein kritisches Konsumbewusstsein.
Das Kapitel „Flucht als Resultat einer verflochtenen Geschichte, Gegenwart und Zukunft“ erörtert, wie man die Ursachen der (Zwangs)migration mittels der Narrative untersuchen kann. Hierfür werden in der Arbeit Konzepte der history from below sowie Gurminder K. Bhambras Konzepte der connected histories und des imperialen Staates aus der postkolonialen Geschichtswissenschaft und Soziologie vertieft und in Unterrichtsprinzipien sowie intertextuelle und konzeptualisierende Lesarten übersetzt. Die Narrative können z.B. im Unterricht als history from below im Vergleich mit der offiziellen Geschichtsschreibung gelesen werden, indem man spezifische geschilderte geschichtliche Ereignisse beispielhaft aus unterschiedlichen Perspektiven in dem Narrativ und in anderen Medien rekonstruiert und diese in einer Ausstellung für andere erlebbar macht.
In dem darauffolgenden Kapitel geht es darum, mit den SuS die vielfältigen geschilderten „Fluchterfahrungen aus der Perspektive geflüchteter Menschen“ zu rekonstruieren und nachzuvollziehen. Interessante Ansätze hierfür werden zum einen in einer seit langem und maßgeblich durch Liisa H. Malkki geführten Debatte um eine vermeintlich allgemeine Refugee Experience innerhalb der Refugee and Migration Studies ausgemacht, aus der zahlreiche Strategien gewonnen werden können, um mittels ethnographischem und intertextuellem Lesen einen vielschichtigen und mehrdimensionalen Einblick in die vielfältigen Erfahrungen zu erhalten. Hierzu dienen auch feministische Ansätze der Intersektionalität, um besser zu verstehen, inwiefern soziale Kategorien und diskriminierende Strukturen die Erfahrungen der Menschen unterschiedlich beeinflussen. Mittels intersektionaler Analysen der Texte, der Figuren und ihrer Erlebnisse können die Lernenden die dynamischen inter- und intrakategorialen Intersektionen zwischen unterschiedlichen sozialen Kategorien, die den Menschen zugeschrieben werden (gender, race, Klasse, Sexualität, Religion, Geflüchteter, etc.), und Systemen der Unterdrückung, der Kontrolle und der Exklusion (Rassismus, Heteropatriarchat, Nationalismus, etc.) in der Gegenwart und der Vergangenheit untersuchen.
Zu guter Letzt dreht sich das finale Kapitel um die „‚Politics and Poetics of Refugee Voices‘ in der EU“ — also die Analyse und Aushandlung von individuellen und gesellschaftlichen Selbst- und Fremdbildern sowie die Reflexion von Repräsentationstechniken und ihren (de-)stabilisierenden gesellschaftlichen Funktionen. Den Postkolonialen Studien folgend werden Ansätze identifiziert, um die Narrative mit den SuS als counter-narratives zu dominanten Repräsentationen zu lesen und die alternativen hybriden Gesellschaftsvorschläge in diesen mittels intertextueller und poetologisch-rhetorischer Analysen näher zu ergründen. Die Texte werden gelesen als politische und poetische Gegenentwürfe und Antwort – im Sinne des writing back – auf diskriminierende politische Praktiken und mediale rhetorics of othering von Menschen auf der Flucht. Für die SuS werden Aufgaben entwickelt, die sie inspirieren, mit Performances zur Erzeugung spezifischer Wirkungen, wie z.B. der De- und Rekonstruktion von Definitionen zu experimentierten.
Auf der interdisziplinären Suche nach vorhanden Ansätzen, die für die Narrative und die inter- und transkulturellen Literatur- und Kulturdidaktik nutzbar gemacht werden können, haben sich einige identifizierte Konzepte, Ansätze, Prinzipien, Lesarten und Methoden als vielversprechende Weiterentwicklungen dieser entpuppt, die enormes innovatives Potenzial in sich tragen. Dieses reicht von experimentellen Performances, um das subversive Potenzial dieser für SuS erleb- und ergründbar zu machen, über die Diagnose einer dringend notwendigen Auseinandersetzung und Integration mit intersektionalen Ansätzen, deren Vermögen zur Förderung eines intersektionalen Bewusstseins bis hin zu paradigmatischen Neuerungen durch Speareys Pädagogik des Bezeugens und ihrem Verständnis von Subjektivität sowie Bhambras Konzept des Imperialen Staates.