Masterarbeit, Fachbereich Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen, 119 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Seit dem Sommer der Migration 2015 sind die Themen Flucht, Migration und Integration in aller Munde – in Gesellschaft, Politik, Medien, aber auch in der Forschung. Insbesondere wird über irreguläre oder illegalisierte¹ Migration gesprochen. Der Blick ruht dabei vor allem auf den Gründen für Flucht und Migration und auf der Integration am Ankunftsort. Was aber dazwischen – auf der Reise – geschieht, bleibt bisher weitestgehend ignoriert (vgl. Düvell et al. 2018: 6f., Geeldoon 2016: 12). Düvell et al. sprechen von einer „tendency to neglect the ‚in between‘“ (Düvell et al. 2018: 7). In meiner Masterarbeit schaue ich auf genau dieses Dazwischen und stelle die Erfahrungswelten und Perspektiven individueller Menschen in den Vordergrund.
Dass soziale Einbettungen die Entscheidung zu migrieren und die Integration am Ankunftsort stark mitbestimmen, ist durch netzwerktheoretische Ansätze und Studien in der Migrationsforschung schon lange belegt (vgl. u.a. Haug 2008). Bisher werden die speziellen Reiseumstände illegalisierter Migration in Netzwerktheorien und -studien jedoch weitestgehend ausgeblendet (vgl. Belloni 2016: 55). In meiner Arbeit zeige ich, dass es gerade illegalisierte Migrant*innen sind, die unterwegs auf informelle soziale Unterstützung angewiesen sind, da sie über offizielle Wege keine Ressourcen generieren können. Ich stelle daher die Frage, welche Rolle soziale Netzwerke für den individuellen und illegalisierten Migrationsprozess spielen.
Da Somalia bereits seit Jahrzehnten Herkunftsland von Geflüchteten und Asylbewerber*innen ist und seit jeher ein von Mobilität geprägtes Gebiet ist, richtet sich mein Fokus auf somalische Menschen, die in den letzten Jahren auf illegalem Weg nach Deutschland gekommen sind und hier Asyl beantragt haben.
Den meisten Menschen aus den somalischen Gebieten bleibt die legale Reise nach Europa und in viele andere Regionen durch bestehende Visabestimmungen verwehrt. Wenn sie ihre Heimat verlassen wollen oder aufgrund von Verfolgung, Gewalt und Konflikt verlassen müssen, suchen sie daher alternative Wege. Wer nicht über die notwendigen Ressourcen verfügt, Reisedokumente zu fälschen, muss illegal über den Land- und Seeweg reisen. Diese Form der Migration wird im Somali Tahriib (arab. für ‚schmuggeln‘) genannt. Hierbei wird üblicherweise auf die Dienste von Schleusern zurückgegriffen.
Über einen Zeitraum von fünf Monaten sprach ich mithilfe eines Dolmetschers mit neun somalischen Männern und einer somalischen Frau über ihren Tahriib – also über ihre Migrations- bzw. Fluchtgeschichte, ihre Entscheidung, Somalia (bzw. das nicht als unabhängig anerkannte Land Somaliland) zu verlassen, und über ihren Reiseweg nach Europa und nach Deutschland.
Unter Anwendung verschiedener migrations- und netzwerktheoretischer Konzepte analysiere ich in meiner Masterarbeit ihre Migrationsprozesse. Dabei arbeite ich die Funktionen und Strukturen sozialer Netzwerke und Beziehungen heraus und verorte Tahriib darüber gesellschaftlich und kulturell.
Ich komme zu der Erkenntnis, dass Tahriib sowohl ein soziales, als auch historisches Produkt ist. Im somalischen Kontext, welcher seit jeher von Mobilität geprägt ist, wird Migration trotz seiner horrenden Gefahren auf der Reise zu einer greifbaren Option. Tahriib wird – obwohl unsicher und gefährlich – zur Lösung für Menschen, deren Leben von Perspektivlosigkeit und Konflikt geprägt ist. So begeben sich auch Personen auf die Reise, die nicht über die nötigen Ressourcen verfügen. Doch zwischen Somalia und Libyen operierende Schleuser haben eine Struktur errichtet, die es einfach macht, zu gehen. Sie bieten an, dass ihre Dienste in Anspruch genommen werden können, ohne dass zuvor gezahlt werden muss. Zu einem späteren Zeitpunkt der Reise – wenn die Bezahlung unter Gewalt- und Mordandrohung eingefordert wird – sind somalische Migrierende auf ihre sozialen Netzwerke angewiesen, um das geforderte Geld zahlen zu können. Auch an anderer Stelle der Reise sind Menschen auf Tahriib auf Unterstützung angewiesen – in Hinblick auf Informationen, Geld oder praktische Hilfe wie Transport und Unterkunft. Die Momente, in welchen die Menschen konkret auf Unterstützung angewiesen sind, variieren von Individuum zu Individuum, doch sind sie über den gesamten Migrationsprozess verstreut existent. Unterstützung ist dabei – wie Mobilität – ein Bestandteil der somalischen Gesellschaftsstruktur, wie auch durch meine Interviewpartner*innen betont wird. Verschiedene Arten von Netzwerkstrukturen kommen zum Einsatz. Während Beziehungen zu nah stehenden Verwandten die Reise vor allem durch Finanzierung überhaupt ermöglichen, sind es losere Bekanntschaften unterwegs, welche die Richtung der Reise – vor allem innerhalb Europas – prägen. Zu jedem Zeitpunkt des Migrationsprozesses sind die Menschen darüber hinaus in transnationale Vernetzungen eingebettet und interagieren mit in der Herkunftsregion Zurückgebliebenen, als auch mit bereits in der Ankunftsregion lebenden Verwandten, Freund*innen und Bekannten.
Zusammenfassend argumentiere ich, dass illegalisierte Migration in den somalischen Gebieten zum einen Folge der langen Migrations- aber auch Unterstützungsgeschichte, zum anderen aber auch die Antwort auf restriktive Migrationspolitiken ist. Illegalisierte Migration ‚funktioniert‘ in gewisser Weise, weil sich eine informelle Infrastruktur an Unterstützungsnetzwerken gebildet hat.
1 Ich verwende bewusst den Begriff ‚illegalisiert‘, um auf die Produktion von ‚illegaler‘ Migration hinzuweisen. Erst durch restriktive Grenz- und Migrationspolitik wird Migration in bestimmten Fällen zu einem illegalen Akt.
Literatur
Belloni, Milena (2016). ‚My Uncle cannot say “No“ if I reach Libya‘: Unpacking the so-cial dynamics of border-crossing among Eritreans heading to Europe. In: Human Geography, Vol. 9 (2), 47-56.
Düvell, Franck, Crawley, Heaven, Jones, Katharine, McMahon, Simon, Sigona, Nando (2018). Unravelling Europe’s ‘Migration Crisis’. Journeys over land and sea. Bristol: Policy Press.
Geeldoon, Maxamed Xuseen (2016). We Kissed the Ground. A migrant’s journey from Somaliland to the Mediterranean. London: Rift Valley Institute.
Haug, Sonja (2008). Migration Networks and Migration Decision-Making. In: Journal of Ethnic and Migration Studies, Vol. 34 (4), 585-605.