Masterarbeit, Fachbereich Politikwissenschaften, 76 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
Nicht zuletzt der „lange Sommer der Migration“ 2015, als Hundertausende Menschen – geflohen und vertrieben aus ihren Ländern – nach Deutschland kamen, verdeutlichte wieder mal aufs Neue, wie gesellschaftlich umkämpft und konfliktreich Aushandlungsprozesse von Grenz- und Migrationspolitiken sind. Obgleich dabei in der politisch-medialen Öffentlichkeit oftmals Pegida, die AfD, rassistische Gewalttaten oder Asylrechtsverschärfungen im Mittelpunkt stehen, so ist es geflüchteten Menschen in den letzten Jahren doch gelungen, Kämpfe um Bewegungsfreiheit, formale Rechte und gesellschaftliche Teilhabe selbst vermehrt öffentlichkeitswirksam auszutragen und infolgedessen dafür zu sorgen, dass in gesellschaftlichen Debatten nicht mehr nur über Migrant_innen gesprochen wird, sondern zunehmend sie selbst ihre Stimme aktiv in den Diskurs tragen. In dieser Hinsicht ist vor allem seit 2012 eine Vielzahl an migrantischen Protestformen zu verzeichnen, die von offenen Briefen, über Platzbesetzungen (z.B. die des Oranienplatzes in Berlin-Kreuzberg) bis zu einem landesweiten Protestmarsch (etwa von Würzburg nach Berlin) reichen und für die Entstehung einer eigenständigen selbstorganisierten, deutschlandweit agierenden Geflüchtetenbewegung sorgen ließ. Ausgehend von dieser empirischen Beobachtung geht die Arbeit der Frage nach, in welcher Weise Refugees die Anerkennung ihrer politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Zugehörigkeit und Partizipation in Deutschland, letztlich das was als Modalitäten von (Staats-)Bürger_innenschaft bzw. Citizenship zu begreifen ist, einklagen und sich damit zugleich individuell und kollektiv durch ebenjenen Widerstand überhaupt erst zu Subjekten im eigentlich politischen Sinne ermächtigen. Für die Untersuchung dieser Fragestellung von zentraler Bedeutung sind dabei die theoretischen Ausgangsbedingungen des im Rahmen der Critical Citizenship Studies von Egin F. Isin konzeptualisierten und von mir genutzten Analyseansatzes „Acts of Citizenship“: Um Kämpfe um Citizenship von formal mehr oder weniger rechtlosen Menschen in den Blick zu gewinnen, bedarf es eines Verständnis von (Staats-)Bürger_innenschaft jenseits der nur staatlichen verliehenen Rechtsposition als dezidiert politische und stets neu ausgehandelte Praxis. Eine solch dynamisch ausgerichtete und konfliktorientierte Perspektivierung von Citizenship ermöglicht es widerständige Momente des Bruchs mit der bestehenden staatlichen Ordnung, sogenannte Bürger_innenschaftsakte (Acts of Citizenship), sprich Praktiken des aktiv(istischen)en Rechtenehmens und Zugehörigmachens von Migrant_innen, innerhalb derer und durch die sie sich unabhängig von Ausweispapieren faktisch selbst zu Bürger_innen machen und ihre politische Subjektivität begründen, analytisch zu fassen. Durch jene theoretische Brille und mittels einer kritischen diskursanalytischen Methodik widmet sich die Arbeit dem Textmaterial der migrantischen Protestbewegung (u.a. Stellungnahmen, Protestaufrufen, Essays, Selbstverständniserklärungen) in Deutschland zwischen 2012 und 2014. 12 Meine Analyse und Interpretation des Forschungsmaterials zeigt, dass sich Geflüchtete grundsätzlich einer Umklammerung aus gesellschaftlichen Strukturen, die ich auf der einen Seite unter dem Stichwort Versicherheitlichung fasse und auf der anderen Seite als Humanitarismus begreife, ausgesetzt sehen und sich von diesen Prinzipien, die sie gesellschaftlich nahezu verstummen lassen, zu emanzipieren versuchen. Folglich ging es den Migrant_innen gerade zu Beginn des Zyklus der Protestwelle darum, einerseits nicht mehr die Exklusionsmechanismen einer restriktiven Asyl- und Einwanderungspolitik stillschweigend hinzunehmen, die als Folge eines politischen und gesellschaftlichen Diskurses zu verstehen ist, welcher Geflüchtete zu Kriminellen und Gefahren konstruiert. Anderseits war Ziel der sich formierenden Geflüchtetenbewegung einer menschrechtlich argumentierenden Diskursposition von Akteur_innen (beispielsweise von NGOs oder Kirchen), die Geflüchtete wiederum allzu oft lediglich zu schützenswerte „Opfer“ passiviert und fremdrepräsentiert, eigene politische Ansichten entgegenzusetzen und sich selbst zu ermächtigen. Durch ihr kollektives politisches Handeln gelang es den Refugees zunehmend sich von ihrer marginalisierten Position zu lösen. Wichtige Protestereignisse stellten dabei der Protestmarsch von Würzburg nach Berlin und die anschließende Besetzung des Oranienplatzes dar. Diese Aktionen des sozialen Ungehorsams können stellvertretend als Acts of Citizenship verstanden werden, insofern als es nicht um ein politisches „Ersuchen“ im Rahmen des üblichen Skripts der (Staats-)Ordnung geht, sondern sich Migrant_innen selbst Rechte, wie etwa das auf Bewegungsfreiheit, aneigneten ohne diese formal (z.B. aufgrund der Residenzpflicht) zu besitzen. Meine Untersuchung offenbart demnach empirische Erscheinungsformen von Acts of Citizenship als Form einer subversiven und kreativen Aneignung von Bürger_innenschaft. Dennoch muss festgestellt werden, dass sich das Spektrum der Kämpfe damit nicht hinreichend und erschöpfend begreifen lässt. Vielmehr ist eine Bandbreite an Ausprägungen aktivistischer Bürger_innenschaft zu beobachten, sodass sich zusätzlich noch Facetten einer Anfechtung (radikale Infragestellung der Verhältnisse) und Einforderung (dezidiertes Einklagen von Rechten) von Citizenship als integrale Bestandteile migrantischer Kämpfe im Allgemeinen und jeweils einzelner Proteste im Besonderen herauskristallisieren. Um den unterschiedlichen Stoßrichtungen der Kämpfe innerhalb je konkreter Kräfteverhältnisse begrifflich feinsinniger Ausdruck zu verleihen, plädiere ich daher in meiner Arbeit noch einmal in spezifizierender und modifizierender Begriffsbildung in Acts of/against/towards Citizenship zu unterscheiden. Citizenship stellt demzufolge sowohl Bezugspunkt der Kämpfe dar, als auch zugleich die bestehende Ordnung der Verhältnisse, gegen die sich der Widerstand richtet. Migrantische Proteste um Citizenship sind damit zwingend stets im Spannungsverhältnis mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen (u.a. lokale Dimension von Migrationskontrolle, Fragmentierung von Rechten, soziale Kategorien wie Geschlecht) zu analysieren und ihrer Vielschichtigkeit nur so zu verstehen. Das Konzept der „Acts of Citizenship“ darf daher nicht dazu führen, migrantische Kämpfe machtblind zu romantisieren. Was jedoch die diversen migrantischen Widerstandspraktiken letztlich allesamt auszeichnet, ist ihre transformatorische Kraft, die national eingehegte Staatsbürger_innenschaft gewissermaßen über sich selbst hinauszutreiben und danach zu fragen, wo Gemeinschaft heutzutage anfängt und wo sie aufhört. Es dieser unweigerliche Impetus der Migrant_innen und ihrer Kämpfe, der in eine Zukunft einer postnationalen Gesellschaftsordnung weist.