Bachelorarbeit, Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 104 Seiten, dt.
Zusammenfassung:
„[W]ir wollen ganze Gesellschaft für die Frauen verändern, auch für die Frauen, die den Weg nicht zu uns finden“
Unsere Bachelorarbeit verfassten wir zum Thema Selbstorganisation von geflüchteten Frauen. Das Eingangszitat, das aus einem unserer Interviews mit selbstorganisierten geflüchteten Frauen entnommen ist, verdeutlicht das Anliegen einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung, das mit einer solchen Selbstorganisation verbunden ist. Unsere leitende Forschungsfrage war, inwiefern sich die politische Subjektposition von geflüchteten Frauen durch Selbstorganisation verändern kann. Unsere theoretischen Vorüberlegungen und Grundlagen hatten zwei Schwerpunkte. Erstens ging es uns um eine theoretische und konzeptionelle Verortung der gesellschaftlichen Lage von geflüchteten Frauen und deren Selbstorganisation, zweitens legten wir der Arbeit den Subjekt- und Widerstandsbegriff nach Michel Foucault zugrunde. Die theoretische und konzeptionelle Verortung unseres Forschungsthemas beinhaltete eine Einordnung des Themas Flucht und Asyl in Deutschland in den historischen, rechtlichen und politischen Kontext sowie die Auswirkungen dieses Kontextes in seiner historischen Gewordenheit auf den Alltag von Geflüchteten. Wir stellten dies in Zusammenhang mit Mechanismen der Identitätskonstruktion durch Grenzziehungen und Abwertung der vermeintlich Anderen, das sogenannte Othering. Für unsere Arbeit nahmen wir an, dass geflüchtete Frauen sowohl in Bezug auf Geschlecht als auch durch rassistische Ausgrenzungsprozesse als anders markiert werden und somit einem zweifachen Othering unterliegen. Die Selbstorganisation, die wir in das Feld der Bewegungsforschung einordneten, erschien uns hier als eine Praxis des Widerstands, der neben Formen der Selbstermächtigung auch, durch die Reaktion auf strukturelle Diskriminierung, diese aufdecken und möglicherweise zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit führen kann. Zur theoretischen Erfassung des Subjekt- und Widerstandsbegriffs verwendeten wir die Konzeptionen Michel Foucaults als Grundlage. Nach Foucault ist das Subjekt historisch geformt sowie sich selbst und den vorhandenen Machtstrukturen im Diskurs unterworfen. Da Widerstand nach Foucault unweigerlich zur Macht gehört, entstehen ständig und überall kleine und große, bewusste und unbewusste Kämpfe gegen Subjektivierungsmechanismen. Da das Subjekt in einem Machtverhältnis, im Gegensatz zu einem Gewaltverhältnis, stets ein handelndes Subjekt mit vielfältigen Möglichkeiten zum Widerstand bleibt, stellten wir die Hypothese (H1) auf, dass Selbstorganisation ein solcher Widerstandsort sein könnte. Die darauf aufbauenden Hypothesen (H2 und H3) waren, dass durch Selbstorganisation Macht sichtbar würde und Handlungsspielräume vergrößert würden und es dadurch zu einer Veränderung der Subjektposition kommen würde. Als Methode verwendeten wir in unserer Arbeit Expert_inneninterviews und führten jeweils gemeinsam insgesamt vier solcher Interviews mit Mitarbeiterinnen der Selbstorganisation agisra e.V. (Informations- und Beratungsstelle für Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen), dem Dachverband für Migrantinnenorganisationen DaMigra sowie einem Mitglied des Landtags NRW durch. Als Expert_innen werden Menschen verstanden, die über ein spezielles Wissen verfügen und daher Informationen über einen zu rekonstruierenden Sachverhalt geben können. Uns erschien die Methodik der Expert_inneninterviews sinnvoll, um Veränderungsmöglichkeiten durch Selbstorganisation von geflüchteten Frauen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und verstehen zu können. Aus diesem Grund wählten wir als Interviewpartner_innen neben Vertreterinnen von Selbstorganisationen auch jemanden aus der politischen Ebene aus. Den Sachverhalt der Selbstorganisation als Ort des Widerstands wollten wir aus verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachten, um eine, für unsere Möglichkeiten im Rahmen der Bachelorarbeit, möglichst komplette Rekonstruktion zu erlangen. Die transkribierten Interviews werteten wir mithilfe der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Gläser und Laudel, die auf Philipp Mayring aufgebaut ist, aus. Die Auswertungsmethode arbeitet mit Kategorien, die aus den theoretischen Vorüberlegungen generiert werden, erlaubt aber im Zuge einer kritischen Sichtung, Bearbeitung und Auswertung des Interviewmaterials eine fortwährende Anpassung und Veränderung dieser. Aufgrund dieser Offenheit und Reflektionsmöglichkeiten während des gesamten Forschungsprozesses erschien uns die gewählte Methode als sehr fruchtbar. Unseren Ergebnissen folgend wurden die Hypothesen bestätigt. Selbstorganisation stellt ein Widerstandsort dar, durch den Macht teilweise sichtbar (aber auch reproduziert) wird und Handlungsspielräume zum Teil vergrößert werden, und zwar sowohl für die beteiligten Frauen innerhalb und im Kontext der Selbstorganisation, als auch durch angestoßene gesellschaftliche Veränderungsprozesse für andere betroffene Personen außerhalb der Selbstorganisation. Insgesamt konnte, unseren Ergebnissen folgend, eine partielle Veränderung der Subjektposition von geflüchteten Frauen durch Selbstorganisation festgestellt werden. Damit es aber zu einer gänzlichen Neuerfindung der Subjektposition kommen kann, benötigt es weitreichende Veränderungen und insbesondere eine Zusammenarbeit zwischen Gesellschaft, Politik und Selbstorganisation. Alleiniger Widerstand durch Selbstorganisation ist aufgrund bestehender Machtstrukturen nicht ausreichend. Es muss an dieser Stelle kritisch bemerkt werden, dass es aufgrund des Umfangs der Arbeit nur möglich war, vier qualitative Interviews durchzuführen. Die vorgestellten Ergebnisse sind wegen der geringen Fallzahl nicht allgemein übertragbar auf alle Selbstorganisationen, sondern richten sich insbesondere auf agisra und DaMigra sowie auf die Stadt Köln. Um festzustellen, ob das Ergebnis signifikant ist und auf mehr Selbstorganisationen und Orte bzw. Regionen zutrifft, bedarf es weiterer ausführlicherer Studien.